Gary Windo "Anglo American" (Cuneiform Records 2004)

Stilistisch nicht kategorisierbar ist die wunderbare Veröffentlichung "Anglo American" aus dem Nachlass des 1992 verstorbenen Saxophonisten Gary Windo. Die 14 Songs wandern von traditionellem über modernem zu Free Jazz, von Jazzrock über Rock und Rock'n'Roll zu Pop. Ähnlich sieht es mit den Bands und Projekten aus, in denen Gary involviert war. Er spielte mit Chick Corea, Jack Bruce und Ginger Baker, war lange Zeit Mitglied in Chris McGregor & the Brotherhood of Breath, arbeitete mit Ray Russell, Hugh Hopper, Robert Wyatt, Roy Babbington und Dave McCrae, stand mit Suzie Quatro und Gary Glitter auf der Bühne und ebenso mit den Gospelmusikern Doris Troy und Jimmy Ruffin. Er spielte Blues mit der John Butterfield Blues Band und NRBQ, New Wave mit The Psychedelic Furs, Avantgarde mit John Zorn, Don Cherry und Daevid Allen und Rock mit Todd Rundgren und Nick Mason von Pink Floyd. Fred Frith, Centipede, Carla Bley Band - die Liste lässt sich beliebig fortsetzen und könnte doch nicht vollständig sein. 5 der 14 Songs dieser (2. Cuneiform-) CD hatte Gary Windo für sein retrospektives Album "His Masters Bones" ausgesucht. Schön, dass es doch mehr Songs wurden, die allesamt die grandiose Qualität zeigen, die Gary Windo am Saxophon zu spielen verstand. Mit 76 Minuten ist die CD randvoll und zeigt einen dermaßen breiten Überblick, wie er selten zu hören ist. Bis auf das 1. und das letzte Stück sind die Songs in zeitlicher Reihenfolge auf die CD gekommen. Der Klang ist überaus gut, trotzdem gibt es natürlich, bei der Zeitspanne von 1971 bis 1981 unvermeidbar, hörbare Unterschiede.
"Round Ginkie" ist ein Solotrack von Gary, ein verspieltes Klarinetten-Stück, das die CD gemäßigt einleitet. Gleich darauf klingt es, als würde Albert Ayler sich eine mordsmäßig abgefahrene und ausgeflippte Jazzrock-Rhythmuscrew in die Band geholt haben. Über fast 12 Minuten rastet die Band (Symbiosis) zwischen Free Jazz und hartem Jazzrock gehörig aus und radikalisiert mit heftigen Improvisationen das Grundthema der Komposition. Alle Achtung, das ist genial - und verlangt gute Nerven! "Carmus" und "Spiderman", zwei weitere sehr lange Tracks, abstrahieren weniger laut, aber doch ordentlich hart. Garys Saxophon ist ein gutes Vorbild für John Zorn, die Band (WMWM), allen voran Dave McCrae, brechen aus jedem harmonischen System aus und tummeln sich sehr inspiriert und begabt in der Weite freier Musik. Das ist kein Krach, sondern die brachiale Struktur des Atonalen. In aller Disharmonie liegt Melancholie und Sanftheit. Die Band erschafft damit eine höhere Harmonie, die im Aufschrei der Instrumente leise, aber gut zur Geltung kommt.
"Take Off" ist mit Musikern der Brotherhood of Breath eingespielt worden, eine humorvolle, überschäumend temperamentvolle Sache mit Lust am Klang, fast tanzbar und völlig mitreißend. Die fünf folgenden Songs wurden 1979 im Gary Windo Quartet eingespielt, seine Frau Pam als Sängerin und am Piano, Steve Swallow am Bass und D. Sharpe als Schlagzeuger. Die Songs sind kürzer, harmonischer, weniger laut. Unisono-Läufe und humorvolle Motive bestimmen die zumeist leisen Stücke. Immer wieder improvisiert Gary über dem fest gefügten Rockjazz der Band Hier tun sich plötzlich Melodien auf, die in den früheren Stücken undenkbar waren, aber immer noch diesen vorwitzigen, frech ausbrechenden Charakter haben und die Struktur so eines Stückes immer wieder wild aufbrechen. "Radio Improved" ist viel rockiger und straffer strukturiert. Pam Windo & The Shades spielten den Song 1981 ein. Kraftvolles Thema, das sich etwas mainstreamig verbreitet, aber durchaus viel Kraft aus dem Jazz bezieht und längst nicht stromlinienförmig ist.
"Baxter" ist eine kurze Humoreske. Klingt wie der Nachtgesang im Puff, wenn die Herren nach Hause gehen und die Damen die späten Sünder vor die Tür setzen Die Band spielt ihren letzten Song und der Saxophonist, der sich den ganzen Abend verausgabt hat, freut sich auf die kühle Flasche Rotwein in der kalten Bude und gibt die letzte Süffisanz von sich. Niedlich, lässig und ungemein schön! "Lassie Breaks Out" ist ein hektisches Thema. Als liefe die ganze Band dem ausgerissenen Hund hinterher! Ein Geschubse und Gerassel ist das - und klingt wahrhaft aufregend, gut nur, dass der zwar laut bellende, zuhöchst erregte Hund (Garys Saxophon scheint zu explodieren!) doch wieder eingeholt wird… Ja, und zum Schluss gibt es den "Red River Valley". 1977 mit Hugh Hopper, Richard Brunton und Laurie Allan eingespielt, zeigt der Song die Lust der Band, mal richtig abzukrachen und den Rock'n'Roll-Hammer auszupacken. Das Saxophon brutzelt die Töne heftigst aus, von der schön kraftvoll agierenden Band bestens unterstützt. Und als die ausklingt und das Sax solistisch weitermacht und kein Ende finden will, ja, da schwebt so ein leises, melancholisches, trauriges Gefühl durch den Raum. Es scheint nicht, als verlasse die Band Gary, sondern Gary die Welt. Schönes, lautes, schnelles, trauriges Ende. Danach schwingt die Stille wie Musik im Raum, hallen die Töne im Kopf nach und fast ist es, als wäre er noch einmal zurückgekommen…

cuneiformrecords.com
VM



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