Vezhlivy otkaz "Go to it".." (1992 Feelee, 2014 Geometry/AltrOck Productions)


Die russische Band Vezhlivy otkaz, der Name ist schwer zu schreiben und ebenso schwer auszusprechen, 1985 gegründet, veröffentlichte 1992 ihr fünftes Album "Go to it!..". Ende 2014 legte das Mailänder AltrOck Label ein Reissue der Platte nach, dessen Gestaltung und Umfang allein für Aufmerksamkeit sorgen. Eingepackt in eine Pappbox enthält das Digipack CD + DVD sowie ein seitenumfangreiches hochaufklappbares Booklet, das sowohl in kyrillischer Schrift wie in englischer Sprache umfassende Informationen um Band und Album enthält.
Die CD, 39 Minuten lang, enthält 9 Songs, die ich als dadaistischen Avant-Jazzrock bezeichnen möchte. Deutlich amelodisch, jazzbetont, und spartanisch ausgebaut, ist nicht ein Instrument Mittelpunkt des Geschehens, sondern die Stimme Roman Suslovs, die wie ein Instrument agiert, Pseudo-Lyrik wie echte Texte intoniert, die hier wie russische Folklore, dort wie theatralische Ironie militaristischer Sprache erscheinen. Die Musik passt dazu. Es geht nicht emotional und bombastisch zu, sondern kühl und düster. Dennoch hat die Musik eine leichte Note, wirkt passagenweise fast etwas operettenhaft und wie der überschießend verzweifelte, schwarzhumorige Kunstausdruck lange abgehängter Jazzrocker, die ihren eigenen Stil gefunden haben. In aller avantgardistischen Note steckt eine Spur No Wave, die melodische Sprache der Songs, wenig harmonisch, ist stark jazzbezogen und spielt zudem mit musikmilitärischen Mustern, die in schräger Karikatur wiedergegeben werden. Sie Songnamen stehen dafür, worum es geht: "Japanese dance", "Charleston", "March", "Tango", "Waltz", "Bossa Nova" - Vezhlivy otkaz verwenden die Titel wahrhaft gut, die Resultate sind überwältigend, auf ihr eigene, unterkühlte und selbstbewusste Weise.
Zwar habe ich bereits allerhand eigenwilliges Zeug gehört, diese Russen indes haben ihren eigenen Tunnel gegraben und einen exzellenten Ausdruck gefunden, der zwischen Kunstlied und Jazzrock Zwiebelhäute zum Weinen bringt.
Neben Suslov gehör(t)en 1991 und 1992 Mikhail Mitin (dr), Dmitry Shumilov (b) und Maxim Trefan (p) zum Line-Up der Kapelle (vielleicht heute noch?), ein jeder handwerklich und technisch von großartigem Format und ernsthaft sowie konzentriert bei der Arbeit.
Das ist besonders gut auf der Bonus-DVD zu bemerken, die den Sound der Truppe in ein erklärendes Licht führt. Einmal gesehen, wie die Jungs aussehen, wie sie sich und ihre Musik geben, wird die stoische Ernsthaftigkeit schnell als schräger Humor entlarvt. Die Qualität der Konzertvideos auf der DVD ist sehr unterschiedlich und in keinem Fall besonders gut. Drei Konzertmitschnitte sind zu sehen und hören, wobei die ‚Hören-Seite' qualitativ besser aufgehoben ist als die ‚Sehen'-Seite.
Ein 27:40 Minuten langer Mitschnitt aus Moskau, im November 1992 aufgezeichnet, ist in der noch besten Qualität zu sehen und hören. Einige Stücke der aktuellen CD sind darunter, weitere, die nicht minder interessant sind. Die bewusst mager gestaltete theatralische Begleitung durch ‚Tänzer' und Utensilien am Rand festigt den Karikatur-Eindruck der Intention des Ensembles.
Am 3. Dezember 1993 spielten Vezhlivy otkaz im Podewil Kulturzentrum in Berlin auf. 46:33 Minuten und 10 Songs umfassend, ist der Auftritt videotechnisch in erheblich schlechter Qualität erhalten, aber gut anzuhören. Bis auf einen Song wird - in gleicher Reihenfolge - das Programm der CD gespielt, zwei Bonusstücke ergänzen das Set. Wiederum in Moskau ist der "Tango" auf dem SDVIG Festival gespielt worden. In der Nach-Sowjet-Ära und vor Zar Putin gab es eine freie Zeit, in der Kunst, Journalismus und Kultur sprudelten, bevor die Kanäle entwickelt wurden, die heute alles Leben im russischen Reich bestimmen. Die Videoqualität des nur 6:26 Minuten langen dritten Videoteils ist wahrhaft schlecht, indes - vorhanden und verwendet worden, als Ergänzung, der Klang der Aufzeichnung ist gut.
Meine Bewunderung hat nicht dieses Produkt allein. In gleicher Box-Aufmachung samt entweder Audio-Bonus oder Extra-DVD mit Videoaufzeichnungen sind weitere Alben der Band veröffentlicht und über das AltrOck Label verfügbar: "Steel on Stone", "Ethnic Experiences" sowie "Geranium".
Zuerst werden wohl an Avantgarde Jazzrock Interessierte sowie Canterbury Freaks vom Werk der Russen angesprochen sein. Empfohlen sei die extravagante und extraschräge Arbeit allen neugierigen Prog-Freaks, deren musikalisches Interesse Theater, Parodie, Jazz und Kunstmusik mitumfasst.

altrock.highsite.it
VM



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