Streetwalkers

John Whitney (g), Jim King (sax) und Rick Grech (vi, b) fanden in der ersten Hälfte der 1960er Jahre zu einer losen Band zusammen. 1965 erfuhr diese Band ihre Vollendung, als Roger Chapman (voc) und Rob Townsend (dr) einstiegen. Family war gegründet. 1968 gab diese Formation ihr erstes, viel beachtetes Debüt "Music in a Doll´s House" heraus. Bis 1973 folgten 7 weitere Alben, von Songs voll grandioser Kompositionen und ausgeklügelter Arrangements geprägt. Ab 1969 drehte sich das Besetzungskarussell. Die LPs waren qualitativ sehr unterschiedlich, immer davon abhängig, wie die Chemie in der Band stimmte. In der späteren Phase bestimmte Roger Chapman zusehends den Sound der Band. Als Chapman und Whitney im Juli 1973 ausstiegen, war Family quasi aufgelöst.

Chapman und Whitney konnten sich jedoch nicht trennen. Sie sammelten ein paar Freunde und Sessionmusiker zusammen, darunter so illustre Namen wie John Wetton, Rick Grech, Neil Hubbard, Ian Wallace, Mike Giles, John Poli Palmer, Mel Collins und Boz Burrell (erstaunlich viele Family- und King Crimson-Members darunter), und spielten 1973/74 unter dem Namen Chapman/Whitney das Album "Streetwalkers" ein.
Das Album war ein Hammer. Die insgesamt nicht mehr so "progressiven" Stücke, wie Family sie ablieferte, waren sehr kraftvoll, dynamisch und ein hervorragendes Stück 1970er Jahre Rockmusik. Irgendwo zwischen Hardrock, Progressive Rock und all diesen netten Zutaten, die den 1970er Sound so lebendig und virtuos machten. Wie dem auch sei, in Großbritannien interessierte sich nur eine Minderheit dafür. Dafür war der europäische Kontinent umso faszinierter. Aber um auf Tour zu gehen, musste neben festen Bandmitgliedern vor allem ein Bandname her, an dem man die Musik festmachen, zu deren Konzerten die Freaks zusammen streben sollten. Kurzer Hand wurde aus dem Titel des Chapman/Whitney - Albums der Bandname. The Streetwalkers waren geboren. Bob Tench (g, ex-Hummingbird), John Plotel (b, ex-Casablanca) und Nicko McBain (dr) vervollständigten das Band-Line-Up, das sich um die Gäste Poli Palmer (syn, ex-Family), Max Middleton (key) und Pete Wingfield (k) ergänzte.
Ebenso wie das 1976 folgende und in gleicher Besetzung eingespielte "Red Card" war "Downtown Flyers" (1975) ein fabelhaftes Hardrock-Album, das sich durch die exzellente Einspielung hervortat.
Das Songwriting war außerordentlich, die Arrangements akzentreich und lebhaft. Die Musiker waren technisch einwandfrei und spielten sich mühelos durch die diversen komplexen Vorgaben. Die Anzahl der kraftvollen und im Kopf hängen bleibenden Stücke ist hoch, nicht nur "Crawfish", "Walking On Waters", "Run For Cover", "Crazy Charade" und "Raingame" fressen sich fest.
Zum 1977 veröffentlichten Album "Vicious But Fair" präsentierte sich eine personell veränderte Band. Für Nicko McBain, der erst zu Pat Travers und später zu Iron Maiden ging und Jon Plotel, der als Sessionmusiker nach seiner Zeit bei den Streetwalkers überall zu finden war, kamen Michael Feat (b) und David Dowle (dr, perc). Michael Feat war ein gern gesehener Gastmusiker, der bereits für Amazing Blondel, Kevin Ayers, Paul Kossoff und viele andere gearbeitet hatte (und noch für Van Morrison, Jim Capaldi, David Gilmour, Tina Turner u.a. arbeiten sollte).
Weiterer Neuzugang war der Keyboarder Brian Johnstone. Mel Collins (ex-King Crimson) und John Poli Palmer (syn, vib, Family) waren wieder als Gäste an der Einspielung des letzten Studioalbums der Streetwalkers beteiligt. Im Booklet zur gerade veröffentlichen CD-Ausgabe von "Streetwalkers Live" meint John Whitney, dass die neuen Musiker nicht den Drive der alten Bandmembers hatten, ihr Sound war gut, aber sie waren jazziger. Aber hörbar hatte die Band sich nicht verändert. Heftige Rocker wie "Mama was mad" und "Chili-Con-Carne" standen dem langen, progressiven "Dice Man" gegenüber. Weitere Songs waren liedhafter, aber nicht weniger interessant. Die Stimme von Roger Chapman war Garant für den grandiosen Sound. Die Kompositionen, die vor allem John Charlie Whitney lieferte, waren sehr gut. Immer noch waren The Streetwalkers eine außergewöhnliche Band. Gerade das europäische Festland liebte die Band über alles, während sich die britische Heimat kühl zeigte.
Vor allem live überzeugten die Streetwalkers immer wieder. Der druckvolle, dynamische Sound und die extrem hohe Energie kamen gerade im Konzertsaal bestens rüber. Es wurde Zeit, das festzuhalten. 1977 erschien "Streetwalkers Live". Jetzt, Anfang 2004 erscheint das Album auf CD. Weder remastert noch überarbeitet, ohne Bonustracks und jeglichen Schnickschnack, nur die reine Übertragung der Musik auf CD. Doch das reicht. Zeigt die Vielschichtigkeit und Grandiosität der Band, die Lebendigkeit der Musik und der Zeit. Das war noch Ausdruck der alten Schule 1970er Rockmusik. Hart gespielte Rocker mit langen Improvisationen, durchzogen von musikalisch-progressivem Gedankengut. Komplexe Kompositionen, die sich keinem Publikum verschlossen, sondern ihre präzise Vitalität und unverwechselbare Hemmungslosigkeit Impuls gebend ins Auditorium vermittelten. Lebenslust und Unabhängigkeit, treibende Motoren der Lebenskultur. Das hat viel Drive und großes Gefühl.
Hier waren sie wieder zu hören, die großen Hits der Band. In ausgedehnten, bis 11 Minuten langen Versionen voll bester Rockmusik; hart, komplex, verspielt, druckvoll. 11 Stücke machen 75 Minuten voll. Chapman brüllt sich die Seele aus dem Leib, die Band rockt diese überirdische Wahnsinnsenergie zusammen. Gitarrensoli, Bandimprovisationen zwischen Jazz, Hardrock und Blues sowie ein glückliches Händchen am Keyboard machen aus dieser Aufzeichnung etwas ganz Besonderes. Zwei Family-Songs sind dabei, der Rest ist eigenes Streetwalkers-Material.
Doch die LP erschien zur falschen Zeit. 1977 feierte die Punkwelle ihren ersten Höhepunkt, die alten Rockmodelle waren plötzlich nicht mehr gefragt. Das Doppelalbum verkaufte sich nicht und ist heute entsprechend schlecht in Second-Hand-Record-Shops zu finden. Chapman, der dem Publikum nie ganz geheuer gewesen war, weil er sich auf die eine Hand "Love" und auf die andere "Hate" hatte tätowieren lassen (bereits zu Family-Zeiten) stieg aus. Der Verlust dieser nervös vibrierenden, unglaublich vibratoreich intonierten Stimme war das Ende der Streetwalkers. Chapman arbeitete mit The Shortlist weiter und legte eine glänzende Solo-Karriere hin, wobei er immer wieder auf Musiker von King Crimson zurückgriff (und trotzdem größtenteils Mainstream produzierte).
Brian Johnstone und David Dowle stiegen bei David Coverdale´s Whitesnake ein. Bob Tench und Michael Feat gingen zu Van Morrison, John Whitney gründete Axis Point für 2 Alben, wurde Studiomusiker für die EMI und kam in den späten 1980er Jahren mit Current Cooking wieder. Das Kapitel Streetwalkers war beendet.
Bereits seit 1991 gibt es CD-Releases einige der Streetwalkers-Alben. Repertoire Records veröffentlichten "Red Card", 1992 folgte "Vicious But Fair…plus" bei See For Miles (mit 8 Bonustracks, unveröffentlichtes Material war nicht dabei). Die lange Wartezeit hat ein Ende. Im letzen Jahr folgte "Downtown Flyers", jetzt "Live", beiden von Beat Goes On Records (BGO) veröffentlicht. Fehlt nur der Erstling Chapman/Whitney, doch das ist nur eine Frage der Zeit. Drücken wir Beat Goes On Records die Daumen. Auf dass die Jungs sich einen Ruck geben und das Highlight folgen lassen. Der Backkatalog dieser größtenteils unterbewerteten Band wäre vollständig.
Das ist das Erbe der Streetwalkers. Unbedingte Empfehlung allen, die Rockmusik der 1970er Jahre lieben, inklusive der Prog Gemeinde der alten Schule.

VM



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