Slopper Pup "Pole Axe" (RareNoise Records 30.10.2015)

Vorsicht: Mats Gustafsson, Saxophon. Kürzlich fand ich online einen Videoschnipsel, der eben diesen Saxophonisten mit Band zeigt, wie er, in aller radikalen, lautstarken Rasanz, vor einer Horde auf dem Boden sich tummelnder Kinder spielt - und wie die mitgehen! Free Jazz als musikalische Früherziehung, das hat es nicht nur in sich, es funktioniert!
"Pole Axe" richtet sich nicht nur an die (kleinen) Kinder dieser Welt, sondern an alle aufgeschlossenen Musikfreunde jenseits der klassischen wie der populären Musik. Es gibt Jazz auf die Ohren und Mats Gustafsson nimmt sich dabei nicht zurück, macht keine Gefangenen und geht bis an den Abgrund und, wie es hier deutlich zu hören ist, darüber hinaus. Gut, John Zorn klang in seiner wildesten Krachphase weitaus lärmiger und punkiger. Mats Gustafsson ist indes nicht leiser, eher komplexer, atonaler und moderner als es der Tzadik-Inhaber in seiner bösesten Zeit einst war.
Zusammen mit anderen Kindern aus der Krachmacherstraße, Joe Morris (g), Jamie Saft (org, keys, Bart) und Balazs Pandi (dr), sind drei, lediglich drei neue Songs entstanden, die 52:05 Minuten berstend randvoll machen.
Den Auftakt macht das 29:36 Minuten lange "Pole Of Combustible Memory". Sitzfleisch ist trotz der Länge nicht notwendig, dabei unbewegt zu sitzen ist Folter. Viel besser ist es da, sich auf der Hüpfeburg, dem Trampolin, zu bewegen und gleich etwas, neben der musikalischen Erziehung, für den Kreislauf zu tun. Das "Bring Me My Deisre And Arrows To Shoot" (17:50 Minuten) schließt sich an, da ist "Incendiary Axe" nur Zeitstaub, die 4:35 Minuten sind im Handumdrehen abgestürmt.
Wenn man das Klangmaterial stilistisch umgrenzen will, kann man etwa Psychedelic Avantgarde Free Noise Jazz dazu sagen, oder Mats Gustafsson. Der ist eindeutig der Mann an der Front. Während der Gitarrist, der Schlagzeuger und der Keyboarder einen umfangreich noisigen Krachlevel produzieren, der aus komplexem Spiel und schlichtem Krach besteht, Jazz- wie Rockklangmasse erschafft, darf der Saxophonist melodisch arbeiten und als Krönung der Schöpfung das Gesicht der Band sein.
Indes - zum Solo neigen alle Beteiligten und dies ausgedehnt. So ist das erste Gitarrensolo ein krasser Schredderrausch, der - melodisch Jazz, inspirativ Punk - sehr leidenschaftlich und atonal anzuhören ist und sich schließlich mit dem kompletten Bandgefüge in ein breiartig kochendes, fast balladesk stilles Bett einfindet, in dem das Schlagzeug für die besondere, technische Note und das Ohrenmerk sorgt, während Mr. Saft seine Tasten im Off als düstere Klangkulisse bewegt, dabei indes auch ins Solistische gerät und melodisch weit über den magmatisch kochenden Musiksee hinausprescht.
Die Energien steigen und fallen. Der Noise-Level hebt und senkt sich. Einmal bricht das Chaos fast in sich zusammen, die Instrumente geben hier und da über das brassige Blubbern melodische Zipfel zu erkennen, es schwelgt der düstere See. Seltsam und berauschend, echte Musikdroge.
Daraus findet ein erneutes Aufkochen statt, das alle Beteiligten mitreißt und zu erneuter schwerer Orgie anhebt. Oftmals ist das psychedelische Klangverhalten weitaus rockverwandter als jazznah. So klangen die verrückten Krautbands Ende der Sechziger Anfang der Siebziger und eine ganze Meute abgedrehter Rockbands gleicher Denkart. Allerdings nie so verwegen und wild wie Slobber Pup.
Diese hier sind trotz allem Jazzmusiker, die ein eigenes, ein extravagant krachvolles, antimildes und nicht unanstrengendes, dabei erstaunlich erfüllendes Musikgut erschaffen, das erobert werden will und sich keinem geneigten Hörer zuneigt, sondern wie ein Gebirge in aller Strenge in die Höhe kragt. Wer die Erfahrung will, muss die Gipfel dieses Gebirges erklimmen.
Ohne Ausrüstung: gute Nerven, Ausdauer (Trampolin) und Kreislaufstärke geht das nicht.
Der Planet ist voll von Musik. Alles zusammen: was für ein Krach! Doch schon allein: "Pole Axe" ohne alles weitere: was für eine Orgie, welch oftmals erstaunlich tiefsinnig stiller, in sich gekehrter Lärm, welch Brüten und Beben!
Spezialistenfutter.

rarenoiserecords.com
VM



Zurück