Richard Nelson & Aardvark Jazz Orchestra "Deep River" (Heliotrope Records 08.09.2015)


Knapp 40 Minuten ist die Spielzeit des 6 Tracks umfassenden "Deep River", das Richard Nelson dem Bostoner Aardvark Jazz Orchestra auf den Big Band Leib schrieb. Ungewöhnlich daran ist die erstaunliche Interessenlage. Blues, wie er in Kneipen vor bald 100 Jahren gespielt wurde, gemixt mit Gospelgesang (heute geht das) trifft auf abstrakten Big Band Jazz und ebenso auf quasi klassisch avantgardistische Instrumentalkomposition. Der klassische Anteil ist minimal, aber entscheidend. Die Big Band Jazz-Arrangements geben dem Blues-Werk eine verblüffende, radikale Note. Vor allem in den jazzdisharmonisch ‚schrägen' Bläserarrangements, den teils erheblich verrückten und seltsam komischen, lustvoll ‚andersartigen' Soli, die bis in Free Jazz-Gefilde ragen. Und dann sind da die hier sanften, nachvollzieh- wie erwartbaren Blues-Gesänge, wie dort plötzlich aus der komplexen, intimen, krassen Instrumentalorgie brechenden, absolut nicht erwartbaren sanften Gesänge, die fast schwarzen Kirchenmusik-Charakter haben und das flüssige Gefüge aus dem Strom reißen - dem sie ihm gleich darauf wieder geben. Schon verrückt.
"Deep River" ist anders. Oft sehr traditionell, fast in jedem Track, und ebenso scharf und radikal im gleichen Stück. Mehrfach gibt diese Arbeit zu Schmunzeln. Und bannt, schärft die Neugierde, klemmt das Ohr an die Boxen, lässt die Augen das Booklet durchforsten.
Genial der ultraflüssige Swing von "Wake Up Jacob", die Rhythmusmaschine exzellent, die krass disharmonischen und doch ungemein eingängigen Unisono-Bläser, das straffe, elegante Arrangement. Könnte pausenlos so weitergehen. Aber da ist, klar, weitaus mehr. Fast jedes Stück fußt auf Traditionals, ebenso dieser, 7:23 Minuten lange Track.
Nach 5 zwischen drei und siebeneinhalb Minuten langen Songs folgt das die Suite abschließende "Make Me a Pallet on your Floor", ebenso auf einem Traditional fußend, Gospel-artig, qua religiös, oder postreligiös, 16:36 Minuten lang. Richard Nelson legt entsprechend viel Wert auf kompositorische Raffinesse. Neoklassisch Abstraktes verwebt mit epischer Jazzdisharmonie, über lange Strecke wird diese exzellente Idee grandios ausgebaut.
Bis (scheinbar) leichter Blues/Gospel das Arrangement übernimmt. Die Bläser beginnen damit, die tiefen Bläser, während die hohen Bläser noch verspielte Soli fahren und den melodischen Raum licht machen. Männliche (Timothy Johnson) und weibliche (Marcia Gallagher) Stimme transportieren das lyrische Geschehen, während Komponist und Gitarrist Richard Nelson gar zu seinem eigentlichen Instrument greift und ein Duosolo mit dem Bassisten John Funkhouser trägt, anschließend ein ausführliches Blues-Solo spielt, das die Ahnung von (einst) beginnender Rockmusik nachvollzieht.
12 Bläser, Gitarre, akustischer Bass und Schlagzeug arbeiten mit den beiden Sängern dieses ungewöhnliche, hochinteressante und intelligent gebaute Werk aus. Traditionals, die bereits seit 1920 entstanden, treffen auf radikale, komplexe Musik des 21. Jahrhunderts - der Kontrast öffnet Augen und Ohren.
Sehr ansprechend!

richardnelsonmusic.com
VM



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