OOIOO "Taiga" (Thrill Jockey, VÖ: 12.09.2006)

Dieses Damen-Quartett ist komplett verrückt. Durchgeknallt. Hätten die Mädels einen Hauch Realitätssinn, würde ihnen nicht dieser, ja, radikale Mordskrach eingefallen sein. "Taiga" ist von der ersten bis zur letzten Sekunde ein perfektes Rhythmus-Album für Avantgarde-Verliebte. Es wird nicht mit Krach gespart. Das geht gleich im ersten Track "UMA" los. Die Rhythmusbombe groovt, als wolle sie ein Heer in die Gänge bringen. Dazu die militärischen Hexenrufe, später atonale Melodiefetzen von Gitarre und Keyboards. Warum ist vorher noch niemand auf diese perfekte Idee gekommen?
"KMS" als zweiter Track, 8 Minuten lang, quält sich dahin. Langsame, schräge Gitarrenakkorde, wie von Fred Frith inspiriert, tuckern durch die ersten Minuten, von lebhafter Handperkussion begleitet. Sodann führt gedoppelter Bass das Stück leise weiter, bis plötzlich das heftige Schlagzeug LAUT einfällt. Zum Glück habe ich gesessen. Daraus wird Jazz-Avantgarde, schräg, aber nicht unnahbar, von besonderem, eigenwilligem Reiz. Trompete und Gitarre halten die Note am Laufen, mal unisono, später free nebeneinander her. Eine der vier Damen bringt lautmalerischen Gesang ein, das disharmonische Spiel wird lebhafter. Später kippt das Schlagzeug in einen pseudo-4/4 um und es scheint, als könnte man das Zeug in der Disko hören, in der Avantgarde-Disko. Oder so. Oder auch nicht.
Die Musik bröselt wieder auf, wird zerfetzt, fängt neben dem unrhythmischen Schlagzeugsolo zu fiepen und brummeln an - durchgeknallt!
Die nächsten 8 Minuten stammen aus dem Urwald. Trommeln, Perkussion, Schlagwerk aller Art, auf einem Basston aufbauend und virtuos variiert. Dazu lautmalerische Stimmen wie aus dem abgelegensten Ort aus dem tiefsten Asien, schräge Keyboardsounds, heavy Gitarrenakkorde; Monotonie und Komplexität in einem. Die vielschichtige Harmonie ist berückend und lyrisch, berauschend wie ein Zauber.
"GRS" ist eine Ballade. Trommeln wie Wellen, die ans Ufer brechen. Klangschalen, dynamisches Schlagzeug, Akkordeon, Stimmen, Flöten wie Naturlaute. "ATS", wiederum 8 Minuten lang, eine einzige Hypnose. Handperkussion, Keyboards wie Urwaldflöten, fast wie Pink Floyd auf "Ummagumma", dazu irre schnell gespieltes Natur-Xylophon, minimalistisch auf der immer gleichen Melodiespur, monotone Bassdrum, arhythmische Gitarrentonfetzen. Die Damen haben ein unglaubliches Gespür für Rhythmus in allen Variationen. Das füttern sie mit atonalen, lauten und lyrisch-harmonischen Harmonien an. Melodie gibt es auf "Taiga" - das auf Japanisch "Großer Fluss" und auf Russisch "Wald" bedeutet, weniger. Die große Harmonie besteht aus vielen kleinen Disharmonien, vielfältigen Rhythmen vielfältiger Rhythmusinstrumente und damit -klänge, den gekreischten, gesungenen, lautmalerisch gebrabbelten Stimmen und wenig melodischem, hypnotischem Spiel der Gitarre, Keyboards und allerhand weiterer Folk-, Rock- und klassischer Instrumente.
"SAI" mit 15 Minuten der längste Track, klingt wie World Music auf Drogen. Ein Psychedelic Rausch der erst minimalistischen, dann immer extravaganteren, schließlich wilden, und doch nachvollziehbaren Art. OOIOO verstehen "Taiga" als Kommunikation zwischen sich und der Natur. Die diversen pseudo-ethnischen Themen und Rhythmen haben einigen Zauber, vor allem die Harmonie zwischen den lautmalerischen Stimmen und den beeindruckenden Rhythmen, eine moderne Zwiesprache zwischen den Musikerinnen und der irdischen Natur in aus ihrer Sichtweise natürlichen, urbanen Klängen.
OOIOO haben einen ganz besonderen Sinn für abgefahrene Sounds. Sie schreien, kreischen und singen, spielen dazu atonale und amelodische Harmoniefolgen. Dem erliegt man nicht plötzlich, sondern schleichend. In der Musik kann man versinken und die einzelnen Töne und Sounds vergessen. Und dann wird eine über allem stehende Harmonie offenbar, aus dem dieser Hexenkessel irrer Sounds besteht. "UMO" hat wieder die hypnotischen Rhythmen und militärischen Ethnogesänge wie das erste Stück "UMA". Eine Sängerin singt vor, die drei anderen im Chor nach, das ist weniger Kriegsgesang, als vielmehr Ausdruck eines gut gelaunter Spaßes.
"IOA" als letzte Herausforderung der CD heißt übersetzt gewiss "Zickengesang". Der Auftakt ist traumhaft, die Stimme schlängelt sich an der abstrakten Melodie entlang - und wieder zurück, dann ein wilder Trommelwirbel und ekstatisches Gekreische, dann wieder monotoner Gesang gefolgt von ekstatischen, blitzschnellen Kehllauten. Das geht so weiter. Monotonie und Komplexität sind auf "Taiga" einzigartig. Die CD ist gewiss nichts für das weiß gekleidete Hausfrauenwohnzimmer, dürfte aber auch Freejazz Spezialisten herausfordern und manchem mit ihrem Lärm erschrecken, dass er (oder sie) aus dem geliebten Wohnzimmersessel fällt. Hauptsache, das gute Geschirr geht dabei nicht zu Bruch.

thrilljockey.com
VM



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