Ochion Jewell Quartet "VOLK" (Eigenproduktion 23.09.2015)


‚Progressive Jazz' ist ein ebenso schwer zu konkretisierender Begriff wie etwa ‚Progressive Rock' - und beide Untergenre sind nicht durch gleiche Merkmale verwandt. Selbst Ähnlichkeiten sind marginal. Indes ist beiden Stilen die Komplexität der Komposition eigen.
Ochion Jewell ist die qualitative Anstrengung deutlich anzuhören, kompositorisch ausgefallen, komplex und eigen, extravagant und ausdrucksstark zu arbeiten. Handwerklich und klangästhetisch im Modern Jazz, ein ebenso umfangreicher Begriff, zu Hause, gibt es folkloristische Ansätze, etwa im Saxophonspiel, das partiell Akzente der jüdischen Folklore einbringt. Die kompositorische Anstrengung zeigt ein großartiges Resultat, "VOLK" klingt außergewöhnlich, verwirrend stark, sehr dunkel und episch, partiell wenig wie Jazz strukturiert und weitaus weniger improvisiert (bis auf das Saxophonspiel Jewells) als im Jazz üblich. "VOLK" ist eine gelungene Mischung aus intimer Komposition und fast verkopft zu nennender bandinterner Themenausarbeitung, für die ein jeder Beteiligte, Ochion Jewell (ts), Amino Belyamani (p), Sam Minaie (b) und Qasim Naqvi (dr) sowie Lionel Loueke (g) als Gast in zwei Tracks, weg von bekannten Strukturen in abstrakte Arbeit wechselte, die stark strukturiert und gleichzeitig wild und unbändig wirkt, in zuhöchst emotionalem und zugleich technischem Spiel diese offenen, schwebenden und lyrischen, beinahe konzertant, sehr dunkel und äußerst intensiv klingenden Songs mit großer Melancholie zu intonieren.
Nicht der stete Fluss kennzeichnet das Ochion Jewell Quartet auf "VOLK", sondern der stete Bruch und das Überspülen der Bruchkanten mit lasziver Saxophonarbeit. Rhythmisch äußerst vertrackt, harmonische Feldsteine aneinanderfügend, arbeitet das Quartet sich durch diese hinreißend verrückten, dabei konzentriert und finessenreichen, wohldurchdachten Songs. Das hat in kleinsten Happen Free Jazz-Format. Zumeist sehr avantgardistisch und expressiv, kann wie aus dem Nichts plötzlich große (Jazz-)Harmonie aufbrechen, Teile der faszinierenden Bruchlandschaft sind tieflyrisch und schöngeistig.
Als 7. Track ist der "Gnawa Blues" zu hören. Gastgitarrist Lionel Loueke spielt den Blues auf sehr authentische, intensive Weise, nicht jazztrunken, eher, als improvisiere er zu einem Thema des frühen schwarzen Blues. Die Band begleitet den Gitarristen, dessen akustischer Ton fast elektrisch klingt, so scharfkantig, klar und sauber ist sein Klang aufgenommen, relativ frei, etwas minimalistisch, mit leichter Tendenz zum Blues nur, eher wie ein neumusikalisches Ensemble, das sich unvermittelt einem Bluesgitarristen ausgesetzt sieht und probiert, was es kann. Der Klang ist außergewöhnlich, wie die Bandimprovisation. In einem weiteren, wiederum über 8 Minuten langen Track ist der Gitarrist Teil der Band. Blues ist nicht mehr Ziel der Übung. Hier wird schön abstrakter und fast schon komödiantisch holpriger Bruchlandschafts-Jazz zelebriert, der trotz der rhythmischen Experimente auf vitalem Groove federt. Klingt intuitiv gespielt, in fortdauernd stoisch experimenteller Improvisation, spannend und trotz aller Extravaganz kein überlautes Spektakel. Beeindruckend!
"Oh Shenandoah" greift tief, schwebt als düstere, linde Ballade über 6 Minuten und ist in aller Stille schön abstrakt und kompositorisch klar. Nach drei Minuten ist das Intro durchlaufen und die Band findet ein episches Fundament, auf dem es über viele Minuten weitergehen könnte. Doch nichts ist überlaut und aufgedreht, nach den Solobeiträgen verfließt die letzte Minute hinreißend. Danach kommt nur noch der Rausschmeißer "Black is the Colour" und wehe Nostalgie macht sich breit. Da ist zu hören, wie viel Spaß das Ensemble am Ausarbeiten ihrer lasziven Ideen hatte. Der Solobeitrag Jewells am Tenorsaxophon blubbert und webt, spielt für alle anderen mit und nach kurz gefühlter Zeit sind die 64:39 Minuten (und 10 Tracks) schnell vorbei.
Großartig!

ochion.com
VM



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