Nadavati "Le Vent De L'Esprit Souffle Où Il Veut" (1978 PG/2015 Soleil Mutant)


Nadavati ist Sanskrit. Nicht neudeutsch. Kein Nada, Vati = nichts da, Alter. Es bedeutet etwa: Der Maßstab oder die Tonleiter des Klanges.
Jacky Liot gründete Nadavati als Musiktheater-Projekt um 1975. Die sechs Stücke, die auf dem 1978 veröffentlichten "Le Vent De L'Esprit Souffle Où Il Veut" ("Der Wind des Geistes [oder der Inspiration] weht, wo immer er gebraucht wird") zu hören sind, wurden für das Projekt in den Jahren 1975/76 geschrieben. Die Geschichte handelte von spirituellen Fragen mit Bezug auf orientalische Mystizismen. Zu einer Theateraufführung kam es nie, die Truppe zerbrach, übrig blieb die Band.
Chef und Komponist Jacques Liot (g) hatte zuvor in kleinen, relativ unbedeutenden Bands gespielt, Caméléon und Hechetu Welo. Anfang der 1970er brach das Interesse junger Musiker aus dem Nachspielen der Hits aus dem vergangenen Jahrzehnt zu den neuen Sounds aus. Mancher Musiker kam direkt aus dem ‚bubblegum pop' zum Jazzrock. Jacky Liot brachte in die Bands seine Einflüsse ein, so dass aus Pop und Rock mit starken britischen Einflüssen schließlich weitaus jazzigere Klänge wurden, wie hier und da in der erwachenden progressiven Rockmusik in Frankreich. Die Mitglieder in Nadavati spielten zuvor in einigen Bands, die mittlerweile als selbstverständlicher Teil der französischen Jazzrock/Zeuhl-Szene jener Zeit gesehen werden, da ist, neben Hechetu Welo, die Rede von Triode, Ergo Sum, Hamsa Music (mit Link zu Magma), Triangle, Abracadabra, Crium Delirium, Nyl, Urban Sax. Die Aktivitäten der einzelnen Musiker waren nicht immer erfolgreich, selbst die Teilnahme an der Einspielung einer LP in einer Band war nicht Garant für gutes Einkommen oder szeneübergreifende Bekanntheit, eher nicht. Wenn heute davon gesprochen wird, welcher Musiker in welcher Band war und dabei Namen fallen, die durch CD oder LP für Interesse und Szeneaufsehen sorgen, so kann dort zuhöchst nostalgischer Wert gesehen werden. Viele Musiker waren ambitioniert und gleich mehrfach engagiert, in mehreren Bands und Projekten oder spielten Popmusik oder Jazz für das Mainstream-Publikum, um sich über Wasser zu halten. Die Teilhabe an der Jazzrock/Zeuhl-Szene brachte nur Underground-Erfolg, oder musikalische Erfüllung. Davon konnte in teuren Hotels kein Fernseher aus dem Fenster geworfen werden.
Jacky Liot fand Alain Lecointe (b, perc), Didier Hauck (dr, perc) und Richard Raux (ts) zur Verstärkung seines nunmehr nur noch musikalischen Nadavati-Projektes. Gérard Fournier aka Papillon, Bassist der bekannten Pop/Jazz/Prog-Band Triangle, begeisterte sich für das Projekt und wollte die Band produzieren sowie Studiokosten übernehmen.
Also zogen Liot & Co. los, weitere Musiker zu finden. Patrice Quentin (hier Freequentin genannt, as, fl), Mico Nissim (p, keys), Jean-François Canape (tr) und Joseph Traindl (pos) sowie (für den lautmalerischen Zeuhl-Gesang in einem Song) Lionel Ledissez & Joël Delamour ergänzten das Line-Up.
Die Band spielte sich ein, die Arrangements wurden ausgefeilt und für die Studioeinspielung perfektioniert. Im April/Mai 1977 war es soweit. Im Studio Adam in Roissy-en-Brie (wo auch Zao aufnahmen) wurden die Aufnahmen gemacht. Manches wurde live eingespielt, manche Session galt den Soli, zuletzt wurden die Bläser und - Saitenspieler aktiv. Ein Quartett aus drei Violinisten und einem Cellisten ist in den 6 Songs zu hören (darunter Michel Ripoche), was eine weitere Parallele zum Magma-Ableger Zao aufweist.
Die Aufnahmen waren im Kasten, der Mix stand vor der Tür, da ging der Sponsor Papillon pleite. Liot und Lecointe, beide Ko-Produzenten, die nun plötzlich hohe Studiokosten zu tragen hatten, machten sich auf die Socken, jemanden zu finden, der in der Lage war, die Studiokosten mitzutragen. Und ein Label zu finden, dass gewillt war, das Album zu veröffentlichen. Das Label PG brachte die Platte schließlich raus. Promotion gab es nada, Pardon, keine. Dafür eine Menge Ideen. Da begeisterte sich etwa ein amerikanischer Produzent für die Band und dachte an ein cooles Konzert in New York City mit allem Drum und Dran. Natürlich wurde nichts daraus.
Jedoch, es ging mit der Band weiter. Mit steten Umbesetzungen und vielen Rückschlägen hielten Jacques Liot und Alain Lecointe mit Nadavati bis zum 17. Mai 1980 durch. Am Abend dieses Tages spielte die Band in Nanterre ihr letztes Konzert. Nadavati aktivierten alle Reserven, holten auf die Bühne, was ging, drei Schlagzeuger wechselten sich ab (zwei spielten je zusammen). Es gab neues Material, genug für ein Doppelalbum. Das wurde indes nie aufgenommen, mit der Ausnahme von "Moksa", das als 1979 live eingespielter Track nun dem Reissue angehängt wurde.
Liot und Lecointe blieben auch nach Nadavati in Kontakt, spielten ab und zu in vereinzelten Projekten miteinander (etwa für Soundtracks) und veröffentlichten weiterhin.
"Le Vent De L'Esprit Souffle Où Il Veut" enthält 6 Tracks, vier um 4 bis 5 Minuten lange Tracks auf der ersten, zwei 10 Minuten lange Tracks aus der zweiten Seite. Der Titeltrack eröffnet mit für Jazzrock-Fans irritierendem Arrangement. Der Einstieg ist ein Mix aus Chicago-verwandtem Brassrock und funky Diskoklängen. Zwar wird, mit dem Einsatz der elektrischen Gitarre und der Streicher Jazzrock draus, aber die Funk-Struktur bleibt im führenden Motiv bestehen. Die Streicher verwässern übrigens nichts, bringen keinen Kitschfaktor in den Jazzrock ein, sondern, wie bei Zao, setzen avantgardistische und Klassik-nahe Akzente. Da ist noch eine Besonderheit im ersten Track, das erste (Disko-Brass-Funk)-Motiv wechselt mehrfach in ein romantisches zweites, das filmmusikartig lyrisch ist und als kurzer Übergang gut funktioniert, ohne selbständig zu überzeugen. Das ist der mainstreamigste Part des gesamten Albums.
Herausragend in Nadavatis Songs, die ansprechend komponiert sind, ohne in der Komposition an sich übergroßen Reiz auszulösen, ist das lebhafte Spiel aller Beteiligter. Vertrackte Rhythmen, vitale Bläsersätze, kraftvoll kernige Gitarrenarbeit, bisweilen schräge Sounds und angenehm verrückte Ideen sind immer wieder zu finden.
Das eröffnende Piano-Motiv im genau 10 Minuten langen "Ananda" ist eine in sich zirkulierende, hochkomplex erscheinende, indes völlig belanglose, billige Kompositionserscheinung, die in der klassischen Kompositionslehre gern als ‚falsche Komplexität' vorgeführt wird. Nach dem recht kurzen Intro tritt dieser unschöne Fehler indes nicht wieder auf. Ansonsten hat "Ananda" eine flott entspannte Latin-Note, ohne allzu billig und leichtgewichtig zu erscheinen. Der beeindruckendste und kurzweiligste, für Jazzrock-Fans erfüllendste und kräftigste Songs ist das mit 10:18 Minuten die LP beendende "Le Pays De La Lumière Dorée". Intensiv, vital, Zeuhl, Jazz, Rock, Stimmen - alles perfetto! Na ja, vielleicht etwas zu lang geraten, zuletzt geht dem Track etwas die Energie aus.
Doch der beste Track der CD-Produktion (für die alle Aufnahmen nach dem digitalen Transfer gemastert wurden (François Terrazzoni, Parelies), ist die 18:58 Minuten lange Live-Aufzeichnung des jüngsten Tracks "Moksa". Gewiss lässt der Klang gegenüber den Studioaufnahmen etwas nach, wie sollte es anders sein. Doch der Sound ist angenehm und vollständig zufriedenstellend zu genießen. Was hier passiert, zeigt an, was verloren ging, Nadavatis Weiterentwicklung (und das bereits vorhandene neue Songmaterial).
Jacques Liot hat viel Raum für solistische Aktivitäten, die er grandios nutzt. Die Band spielt sehr ansprechend, der Track ist weitaus jazzlastiger und ‚progressiver' als das Material des Studioalbums und erinnert nicht nur einmal an Frank Zappa (Gitarrensoli, Bandinterplay). Zudem ist die Komposition erheblich kerniger und extravaganter als das Studiomaterial. Gerade und schon allein dieser Track ist die Anschaffung der CD (die auf eine Spielzeit von 58:56 Minuten kommt) wert.
Im Booklet ist die Bandstory in französischer und englischer Sprache ausführlich nachzulesen, Bilder und technische Angaben ergänzen das Beiheft. Schön, dass dieses fast vergessene Album endlich wieder verfügbar ist.

soleilzeuhl.com
VM



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