Modest Midget "Crysis" (Multi-Polar Music 2014)


Was etwa "Ambrosia" in den Mittsiebzigern zum damaligen Progressive Rock waren, sind Modest Midget heute zum aktuellen Prog. Die Band ist das Baby des Multiinstrumentalisten und grandiosen Komponisten Lionel Ziblat, der, bis auf zwei Songs, alle Stücke selbst schrieb. Und da fällt schon beim zweiten Track "A Centurion's Itchy Belly" die Kinnlade runter. Erster Gedanke: der hat das selbst geschrieben? Ist so etwas heute noch möglich? Stammt der aus einer anderen Dimension, in der solche Musikmoleküle noch zu finden sind?
Der Song ist, wie das eröffnende Elektronik-Stück "The Grand Gate Opening" und später "Flight of the Cockroach" rein instrumental - und tut nur gut daran. Hier ist soviel locker flockig rassige Idee verarbeitet worden und soviel freundlich lustiger Humor zu finden, dass nur immerzu dieser Song wieder und wieder aus den Boxen muss. Im Text steht etwas von Asterix und Obelix. OK, genauso ist der Song. Das Akkordeon-Solo, eingespielt vom Jazzpianisten Dimitar Bodurov, ist nicht der einzige Teil des Songs, der krasse, abgefahrene, qua avantgardistische Modelle in den Song, die Songs, das Album einfügt.
Während mein erster Impuls war, die Songs mit Gesang zu betrauern - weil sie nicht instrumental sind - ist mir mit dem gefühlt 20. Hören das komplette Album so ins Bewusstsein gedrungen, dass ich mitpfeifen, -singen und -tanzen kann. Und dabei macht sich soviel auf, was in den ersten Hördurchgängen gar nicht ins Bewusstsein konnte. Da sind mal extravagante Unisono-Läufe der ganzen Band, verrückte Synthesizer-Soli, abgefahrene Instrumentalparts, und dazu die fröhlichen Gesangsparts, die hier die Beatles, da ELO, dort Ambrosia, dann Alternative Rock, Singer/Songwriter-Pop in verzückten Genen erkennen lassen, und dann aus dem sanften, liedhaften Stück Musik instrumental erheblich extravagant schräge Sachen machen.
Wie die softe Ballade "Praise The Day" dahindämmert, fabelhaft. Zumeist mischen sich poppige Ideen mit ausgefallenem Humor, wenn etwa in "Now That We're Here" plötzlich diese rhythmisch rasante Idee ausbricht, als flatterten alle Hühner fluchtartig aus dem Bau, als die Tür geöffnet wird. Im Gesangspart wird als Kontrast ein etwas angespitzter Balladen-Modus daraus, der fast clownesk dahindröppelt, beleidigt, traurig, bis die Humornote wieder das Sagen hat und die instrumentale Seite des Songs für überschießenden Humor sorgt, der nur ungemein mitreißt. Was für eine Idee! Könnte das Mainstream-Publikum ebenso entzücken wie Musikfreaks, die im charmanten Rausch gewiss oft schmunzeln müssen und sich die friedliche Popchose gefallen lassen, weil so viel instrumental Grandioses passiert.
Und sogar die Coverversion von "Oh Pretty Woman", wahrlich nichts, was im Original an mein Ohr muss und sich zu großem Leid entwickelt hat, wird hier, in diesem extraclownesken Arrangement lebhaft und witzig. Wenn der Vokalteil nicht wäre. Doch schnell verziehen - die Instrumentalarbeit. Zudem ist der nächste Song nach 2:25 Minuten sogleich dran. Und das ist die nächste clowneske Instrumentalnummer, von der es mehr geben muss. Die Humorparts sind die besondere Note des ganzen Albums, die Qualität der Songs. Lionel Ziblat muss hier unbedingt mehr tun, dies ist seine Stärke! Ungemein kurzweilig, diese rasanten Humormotive, das will immer wieder ins Ohr. Doch auch die poppigeren, langsameren, balladesken oder eingängigeren Songs bekommen, infiziert durch die Vitalhumorisierung der witzigen Themen eine clowneske Note, im umgekehrten Sinn. Da geht beeindruckender 70s-inspirierter Melodic Rock der besten Art (Pink Floyd, Ambrosia) genial (!) ins Ohr, dass nur zu staunen bleibt, dass die Welt bislang ohne "Secret Lies" existierte. Was für eine Frische! Wie gut gedacht und gespielt! Und wahrhaft brillant - - -
Letztlich machen gar eingängige Balladen-Popsongs wie "Gone Is" einen guten Eindruck, weil der Song sehr wohl durchdacht ist und hinreißend zu Leben erweckt wurde. Im Titelsong gibt es einmal mehr 'progressive' Musikmoleküle zu genießen. Die erneute Mischung aus eingängig flottem Poprock und ausgefallener instrumentaler Idee setzt hier nicht auf humoristische Tölpelhaftigkeit und clownesken Witz, sondern auf tief nachdenkliche Motive, das ist ebenso grandios wie die freakigen Songs. Kaum zu fassen, erstaunlich großartig und von einer unprätentiösen Machart, die cool und erfrischend heiter ist, dass die Platte in allen Facetten (und OK, auch Pretty Woman) zu genießen ist.
Zuletzt Stadionrock mit Pomp und großer Geste. Hier standen wohl Abba Pate. Abba, wenn sie Progressive Rocker gewesen wären und zuckersüße Metalriffs als Basis nutzten. Dieser Lonny Ziblat ist ein echter Hinhörer. Verrückt, wie gut und progressiv verrückt trotz aller Eingängigkeit und Popbetontheit die Songs sind. Hier ist nichts platt produziert. Dieses hinreißend lebhafte, facettenreiche Album hat Stil und Charakter.
Und ist absolut wichtig!
Und klar: großartige Band!
Hört es euch nur selbst an, ihr werdet schon sehen, was euch bislang entgangen ist.
Mehr davon!
Jahresbestenlistendraufsteher!

modestmidget.com
VM




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