Mike Osborne "Dawn" (Cuneiform Records 2015)


Mike Osborne ist eine der vielen tragischen Gestalten des Jazz. Der britische Altsaxophonist wurde am 28. September 1941 in Hereford, UK, geboren und starb in seinem Geburtsort am 19. September 2007 kurz vor seinem 66. Geburtstag. Da war der von Jackie McLean beeinflusste Saxophonist (man sprach vom ‚britischen Jackie McLean') schon lange aus der Jazzszene verschwunden.
Seine erste Aufnahmesession erlebte Mike Osborne als Mitglied der Bläserfraktion in der Mike Westbrook Bigband ("Celebration" 1967, "Release" 1968), bald darauf spielte er mit seinem Westbrook-Partner John Surman zusammen. Sein Debüt "Outback" erschien 1970 auf dem Label Turtle. Neben Osborne waren Harold Beckett (tr), Chris McGregor (p), Harry Miller (b) und Louis Moholo-Moholo (dr) an den Aufnahmen beteiligt. In der Folge spielte Osborne mit zahlreichen (werdenden) Größe der modernen britischen Jazzszene und wurde neben John Surman und Mike Westbrook festes Mitglied in Chris McGregors Brotherhood of Breath. Sein zweites Album "Shapes" wurde 1972 aufgenommen. Mit Surman, Miller, Moholo-Moholo, Skidmore und dem Amerikaner Earl Freeman eingespielt, kam es erst 1995 zu einer Veröffentlichung.
Mike Osborne war an diversen Aufnahmen anderer Musiker und Ensembles beteiligt. Etwa an "Ode" (1972) des London Jazz Composers Orchestra, "How Many Clouds Can You See?" von John Surman, "The Sun Is Coming Up" von Ric Colbeck, "Song For Someone" (1972) mit Kenny Wheelers großer Besetzung. Alles ebenso großartige Alben, die zu Genreklassikern reiften, wie Osbornes eigene LPs "Bordercrossing" (1974) und "All Night Long" (1975) auf Harry Millers Ogun Label. Sein Part in dem Saxophon-Trio S.O.S. (Surman, Osborne, Skidmore), in Harry Millers Isipingo Band, der Brotherhood of Breath und in zahlreichen größeren wie kleinen Besetzungen sprechen eine beredte Sprache. Mike Osbornes Spiel war ein wichtiger, treibender und beständiger Teil des modernen britischen Jazz.
Anfang der Achtziger Jahre verließ Mike Osborne London. In den vergangenen Jahren war es vermehrt zu Situationen gekommen, die seine psychische Instabilität verrieten. Harter, dauerhafter Drogenkonsum hatte dazu geführt, dass der grandiose Saxophonist an seinen eigenen Fähigkeiten zweifelte, immer weniger spielte und psychisch erkrankte. Er ließ die Musik komplett hinter sich, spielte nie wieder Saxophon, hatte keinen Kontakt zu anderen, langjährigen Partnern und wurde von seiner Ex-Frau Louise gepflegt, bis der vorgealterte, psychisch kranke Mann 2007 an Lungenkrebs starb.
"Dawn" präsentiert zwei Phasen aus Mike Osbornes Musikerkarriere. Die ersten sechs Tracks, drei davon im August, die anderen drei im Dezember 1970 aufgenommen, zeigen das Trio Osborne (as), Harry Miller (double b) und Louis Moholo (dr) lange vor ihren beiden Alben "Bordercrossing" und "All Night Long". "Scotch Pearl", der erste Track auf der CD, wurde später für "All Night Long" erneut eingespielt, "Dawn" und Herbie Hancocks "Jack Rabbit" folgen, wobei letzteres eine sehr interessante Version ist, die eindrücklich zeigt, wie man die Komposition zerlegen und neu erschaffen kann. Zwei der drei im Dezember aufgezeichneten Tracks sind unbenannte, bislang unbekannte Aufnahmen, deren grandiose Qualität ebenso faszinieren wie "1st", eine Version des Jahre später auf dem Debüt von S.O.S. verwendeten Stückes. (Nebenbei kann ich die ebenfalls bei Cuneiform Records veröffentlichte S.O.S. 2CD "Looking For The Next One" empfehlen.)
Die vier weiteren Stücke wurden bereits am 9. Juni 1966 aufgezeichnet. Es sind die ersten Tondokumente Mike Osbornes, der damals 24 Jahre alt war, überhaupt. Harry Miller fing schon an, die Haare zu verlieren, John Surman (bs, ss) war gerade 21, der Vierte im Bunde, Alan Jackson (dr) war schon ein paar Jahre älter. 1966 war Free Jazz noch Zukunft, es gab keine langen Improvisationen dieser Art, die auf Schallplatte verewigt wurden. Es war die Zeit der "formalen Suiten" und der stilistischen Übernahme dessen, was auf dem nordamerikanischen Kontinent die Jazzszene bestimmte. Pharaoh Sanders "Seven By Seven", Carla Bleys "And Now The Queen" und Booker Littles "Aggression" neben Mike Osbornes eigener Komposition "An Idea" machen die historischen, klangmäßig sehr gut erhaltenen und historisch nur unbedingt wertvollen 20 Minuten aus.

"Scotch Pearl" ist ein enorm dynamischer Song mit schnellen Basslinien und jugendlich rasanter Saxophonarbeit. Auf der Basis intensiver Schlagzeugarbeit greift der Bass weit ins Offene und zieht die Komposition aus den Ufern, während Mike Osborne grandios bläst, hohe, lange Töne hält, in tiefe Melodik bricht, stetig die Skalen abarbeitet und herzschlagerhöhend rasant, kraftvoll kernig, jugendlich frisch und ungemein lebhaft abstrakt spielt. Immer wieder wird das Basisthema angesprungen, um mit anderem, neugierigen Thema aufzubrechen. "Dawn" ist ein schwer dunkles Thema. Der Bass wird gestrichen, wulstige Beckenarbeit macht den Tonraum voll und das Saxophon, erst melodisch und noch zurückhaltend, beginnt das Grundthema auseinanderzunehmen und fabelhaft zu variieren, was Schlagzeug und Bass mitzieht. Was hier geschieht: anhören!
"Jack Rabbit" fällt mit der Tür ins Haus, das Trio spielt so frei, versiert und locker, dass der Energiepegel sofort voll ausschlägt. Das herzhaft dynamisch rasante Stück lebt nicht nur von der Schnelligkeit des Trios, nicht nur von der Improvisationslust und -kunst der jungen Spunde, sondern vor allem vom Saxophonsound Osbornes. Der ist rau, kantig und hart, hier sanft und angenehm, dort kratzig und harsch.
"TBC" als erster Track der Dezembersession ist knapp 11 Minuten lang, gefühlt kaum sieben. Wieder ist der Rhythmusteppich enorm dicht und virtuos, der Bass strebt hier die Skalen hoch, versinkt in tiefster Betrachtung und birst in emotionalster Abkehr vom Thema. Osborne steht verhalten dabei, noch, zwar ist sein konzentriert schnelles und melodisches Spiel durchaus sehr abstrakt, doch seine Improvisation überschlägt bei weitem den Pegel nicht. Die Komposition, für Free Jazz geradezu sanft (was es später nicht mehr sein wird), ist ein gutes Beispiel dafür, wie geerdet und ‚klassisch' die freie Szene begann. "1st" höre ich das erste Mal mit Bass und Schlagzeug. Die Komposition hat ein komplett anderes Arrangement und findet in dieser Version einen eindrücklich mystischen Charakter mit ethnisch afrikanischer Note.
In "TBD" arbeitet Mike Osborne sich die Finger wund, Louis Moholo am Schlagzeug ist ein wildes Tier mit Berserkerlust am knalligen Krach. Das wohl verrückteste Stück bislang macht ungemein Spaß und befreit den Kopf. Ausgezeichnet! Tut euch den Gefallen - - -
"Seven By Seven" im Anschluss führt nach 1966 zurück und das ist deutlich zu hören. Nicht am Klang, der ist absolut empfehlenswert. Sondern in Stil, Handschrift und Improvisation. Das Quartett Mike Osborne, John Surman, Harry Miller und Alan Jackson klingt nach den vorher gelaufenen 1970er Sessions geradezu naiv, und doch im modalen Spiel locker und frei. Die Jungs beweisen, den Stilwechsel hingenommen, Selbstbewusstsein und erstaunliche Improvisationsfähigkeit. Gut zu hören, dass sie es im Blut hatten und keine Schüchternheit kannten. Mike Osbornes "An Idea" braucht sich hinter den Interpretationen der anderen Komponisten nicht zu verstecken. Sehr kernig, dynamisch und mit einem vollen, runden Ton, der direkt ins Mark geht. Die schweren, tiefen Töne haben enorm Volumen, seine lockere Handschrift bläst schon gut ins Freie und lässt sich im solistischen Spiel ausgiebig Zeit. "Aggression" zuletzt beginnt verhalten, aber kampfeslustig. Und wird dann zu einem rasanten Speed-Song, der vorwegnimmt, was in den kommenden Jahren an großartigen Taten, Songs, Konzerten und Alben folgen sollte.
Mike Osborne kann die Veröffentlichung leider nicht mehr erleben. Doch wir können. Und das kann ich nur empfehlen.

allmusic.com/artist/mike-osborne-mn0000524917
cuneiformrecords.com
VM



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