Lind "Profoundly Felt Reality" (Eigenproduktion 2008)

Andy Lind, Namensgeber und Kopf des Lind-Projektes, gibt auf myspace.com/lindmusic schlicht Metal/Experimentelle Musik/Fusion als stilistische Zuordnung an. Diese drei Stilmarken vereinen jeweils enorme Vielseitigkeiten in sich. Und doch, vor jedem Ton bereits kann man sich eine etwaige Vorstellung davon machen, was hinter dem Namen - und der brandneuen CD "Profoundly Felt Reality" steht.
Es ist die Vereinigung gerade dieser Marken, die im Mainstream mit Bedacht weit umfahren werden. Lind ist ein orgiastischer Pool, in dessen furioser Mitte ein selten in dieser virtuosen Form zu erlebender brachialer Schmelzpunkt aufblüht, der entweder in den Bann zieht oder mit heftigem Schrecken abstößt.
Lind ist kein gutes Wort, diese donnernden Dramen zu beschreiben. Heftig ist ein gutes Wort dafür. Viele Markenzeichen machen die Tracks heftig. Da ist zum einen das technisch schwer komplexe, dabei stets hart und emotional tickende Schlagzeugspiel, das allein bereits eine Tour De Force für die geneigte Aufmerksamkeit des Zuhörers ist. Zweites Triebmittel ist Jan Zehrfelds (genau dieses Jan Zehrfelds, des Panzerballettisten) ultraschweres, riffgewittriges, tief über dem Abgrund rasselndes Gitarrenspiel sowie ein Jazz-Fusion typisches Keyboardspiel, das den Stücken einen unglaublichen Kick gibt. Die auf dem elektrischen Keyboard gespielten jazzharmonischen Akkordfolgen, die auch hin und wieder in der Bassarbeit wiederkehren, geben der wüstharten Metal-Architektur grandiose und hinreißende Extravaganz. Wer zuvor hatte die Idee, schweres Metal, das sowieso schon von allerlei abgefahrenen Sounds und komplexen Irrsinnspassagen durchtrieben ist, mit fruchtbaren Jazzakkorden zu überziehen?
Und dann ist da noch der Gesang. Andy Lind singt zumeist im Hardcore Schreigesang, hebt aber auch mit ‚normaler' Sangesstimme zur Intonation der Texte an, was dann schlicht verblüfft, weil diese weiche, hohe Stimme so gar nicht zu dem Mann, zu seiner Musik passen will, ein ungeahnter Sympathiefaktor. Die CD ist über 76 Minuten lang. Nach einem ersten Hören, wovon ich, wie vom Donner gerührt und keines Gedankens fähig, zurückblieb, folgten stete Durchläufe. Und schließlich prägte sich der Gesang ein, wie die Vielzahl der abgefahrenen instrumentalen Ideen. Es gilt, die Härte des Gesanges nachzuvollziehen. Ob Jan Zehrfeld ein Exemplar der Scheibe seiner lecker Kuchen backenden Oma schenkt?
Für mich ganz persönlich ist das sechste Stück "Weary Eyes" der Höhepunkt des variablen Geschehens. Hier treffen Komplexität, Jazz, Metal mit gar fluffig coolem Funksound in einer Intensität und quasi Eingängigkeit aufeinander, die bemerkenswert sind. Normaler heller und Hardcore Schreigesang nehmen die Energie zudem auseinander, fächern die geniale Note auf und geben Andy Lind den Ruf eines ausgeflippt guten, grenzüberschreitenden Komponisten.
Gewiss jedoch nicht nur hier. Das Album ist reich an Höhepunkten, hat einen steten hohen Qualitätslevel, sprüht vor Ideenvielfalt, vor unnachgiebiger Härte, vor rhythmischen Brüchen, energetischen Eskapaden, reizt Jazz aus und hat zudem avantgardistische Klänge, Stimmen und Passagen drauf, deren Arrangements noch einen Tick schräger sind, beiweilen aber auch von Eingängigkeit und gar Poppigkeit sprechen.
Gut, dass "Profoundly Felt Reality" mit dem anderthalbminütigen "One" beginnt, dieser rhythmus- und jazzbetonten leisen Note, die außer Metalgitarren schon mal den vollen Sound fährt, auf die nachdenkliche Weise, die dennoch sofort mit ihrer grandiosen Rhythmusverspieltheit in die brodelnde Richtung weist. Der Auftakt, ein letztes Mal das Ufer sehen, bevor die 76-minütige Party im Orkan zum Höhepunkt aufläuft.
Nichts ist leicht an "Profoundly Felt Reality". Neben den Metalriffs lässt Jan Zehrfeld die Gitarre ohne Pause kreischen, sägen und mit den Riffs eine differenzierte Rhythmuskomplexität aufbrechen, die vom schweren, vitalen Schlagzeugspiel in enormer Klangdichte untermauert und ebensolcher Virtuosität kongenial ausgebaut wird. Es gewittert ohne Unterlass! Hier und dort sind ein paar spezielle Panzerballett-Brocken zu erkennen. Aber im Grunde sind sich beide Projekte nicht besonders ähnlich. Vielleicht bis auf die Kompromisslosigkeit, mit der Lind und Zehrfeld im Besonderen ausgestattet sind.
Lind ist insgesamt eher ungewöhnlich und unvergleichlich. Gewiss, Namen wie Meshuggah und Dillinger Escape Plan treten als Vergleich auf den Plan, ohne Lind aber die besondere Persönlichkeit und Eigenständigkeit zu nehmen.
Vielleicht wird sich in der Extremszene, die keine Scheu vor vitalen Stilbrüchen hat, wie beide soeben genannte Namen sie lustvoll ausführen, ein neuer Name am Horizont auftun und die Süchtigen fragen einander lassen: "Hast Du schon von dieser Irrsinnskapelle gehört, die der totale Hammer sein soll!?!" Dann müsst ihr nur mal in die wirren Augen der Typen blicken, die diese Frage erreicht hat und die sich auf nichts anderes mehr konzentrieren können. "Mensch, erzähl schon, wie heißen die?" Worauf der genüsslich Wartende, in Gedanken von den Umstehenden bereits Zerfleischte und den Hunden zum Fraß Vorgeworfene die rechte Hand hebt, die CD zeigt und meint: "Na Lind, ihr Deppen, Lind!"

andylind.de

VM




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