Laboratorium "Anthology 1971-1988" [10CD-Box] (Metal Mind Productions, VÖ: 18.09.2006)

Das polnische Label Metal Mind Productions sorgt mit vollumfänglichen und liebevoll produzierten Reissue-Boxen für ausgesprochen reizvolle Produktionen. Erst legte das Label die 22-CD-Box (!!!) "Anthology 1974 - 2004" der polnischen Progressive Rocker SBB auf: alles Material 24-Bit digital remastert, mit dickem Booklet inklusive Bildern und ausführlicher Story (in polnischer und englischer Sprache), dann folgte die 5-CD-Box der polnischen Symphonic Rocker Exodus (die bereits schon wieder ausverkauft ist!) und justament als dritte Box in der Folge die 10-CD-Box der polnischen Kult- (das muss in diesem Zusammenhang so gesagt werden) -Jazzrocker Laboratorium. Jeweils ist sämtliches bisher auf LP veröffentlichte Material enthalten (mit gewissen Ausnahmen, bei SBB fehlt die Platte "Freedom - Live Sopot'78", bei Laboratorium wurde bei der ersten Veröffentlichung der Band, der EP "Klub Plytowy" die zweite Seite weggelassen - aber egal, eben FAST alles, 99% der bisher verfügbaren Aufnahmen wurden hier wieder veröffentlicht). Dazu Unmengen an Bonustracks. Die LPs waren damals zwischen 35 und 40 Minuten lang, die CDs sind zwischen 55 und 80 Minuten lang. Selbst das live aufgezeichnete Material von diversen Jazz-Festivals und Club-Konzerten hat exzellenten Sound, mit wenigen Ausnahmen, wenn aus der entsprechenden Phase wohl kein weiteres Material archiviert worden war.
Metal Mind Productions machen die Arbeit ausgezeichnet und vollumfänglich. Die historische polnische Prog- und Jazz-Rock-Szene kann sich freuen, das engagierte Team im Land zu haben. Andere Länder, wie etwa die Slowakei oder die Tschechische Republik, so kann ich nur hoffen und annehmen, sollten sich ein gutes Beispiel nehmen und ihre diversen exzellenten Klassiker ebenso ansprechend erneut veröffentlichen. Von Material aus der DDR will ich hier nicht sprechen. Sicher gibt es grandiose Konzertaufzeichnungen, aber die Musiker selbst sind heute nicht mehr daran interessiert und laufen nur den dämlichen Trends hinterher, um einigermaßen am Ruder zu bleiben. Dennoch bleibt auch in dem Rahmen zu hoffen, dass einige engagierte Fans sich auftun, altes interessantes Material auf CD - und vor allem mit diversem Bonusmaterial - aufzulegen.
Aber zurück zu Laboratorium. Die Geschichte der Band ist im Booklet nachzulesen, daher hier nur kurz zusammengefasst. Jazzkeyboarder Janusz Grzywacz hatte seine Erleuchtung, als er 1969 das Debüt von King Crimson hörte. Seitdem war Jazz für ihn Geschichte und er wandte sich progressiver Rockmusik zu. Die Anfänge waren äußerst schwierig, es gab keine Gitarren zu kaufen, die Band spielte am Anfang auf allerbilligstem Equipment, langsam nur sammelten sich (erst billige und dann bessere) Instrumente an, kamen Laboratorium in den Genuss besserer und schließlich guter Technik.
Laboratorium bestand zu Beginn aus ganz jungen Jazzmusikern, die das Feld der progressiven Rockmusik für sich entdecken mussten. Jazzgeprägt und im Laufe der Jahre von den Großen des Jazzrock wie vor allem dem Mahavishnu Orchestra, Return To Forever und Weather Report geprägt, bekam die Band bald ihren ganz eigenen und persönlichen Ausdruck. Laboratorium spielten nie harten Rock, sie hatten stets einen Hang ins Melancholische, Düstere, ins weite Jazzfeld, in komplex strukturierte melodische Harmonien und aufwändige Klanglandschaften.
Die Markenzeichen waren das exzellente Keyboardspiel Janusz Grzywacz's, der eine gewisse Ähnlichkeit zu Joe Zawinul zeigt, aber sehr eigen und selbstbestimmt spielt und als stark prägend für nachfolgende Jazzrock-Musiker gelten muss. Weiteres Merkmal war der nicht Bebop-orientierte lautmalerische "Gesang" des Bassisten und Saxophonisten Marek Stryszowski, der nicht nur auf "Modern Pentathlon", DEM Klassiker der Band, ausführlich zu hören ist, sondern jede LP und alle Jahre die Band prägte. Und dann ist da noch die zurückhaltende, spannungsreiche, komplexe Harmoniesprache der epischen Kompositionen, die selbst einen Blues wie "Prevet Blues" zum progressiven Jazzrock machen.
Laboratorium brachten später solo oder in anderen Bands und Projekten erfolgreiche und weltweit bekannte Musiker hervor. Etwa die Brüder Pawel und Krzysztof Scieranski oder den Schlagzeuger Mieczyslaw Górka.
Bis zum Ende des Bestehens der Band, die sich irgendwann im Jahr 1990 von selbst auflöste, aber bereits seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre in die Krise gekommen war, gab es auf allen LPs stets lange Tracks. Laboratorium spielten auch kurze Tracks, als kommerzielle Ergänzung ihrer avantgardistischen Werke gedacht, die jedoch aus heutiger Perspektive nicht als kommerziell gelten können, eher leichterer Jazzrock sind, hin und wieder etwas Funk, Blues oder in späteren Produktionen auch Easy Listening im Blut haben, aber in jedem Fall (bis auf die letzte kommerzielle LP) überzeugend gelungen sind.
Die EP "Klub Plytowy" (1972), so in Anlehnung an die Betreiber des Schallplattenclubs genannt, die sich für die Band stark machten, enthielt vier längere, live aufgenommene Stücke, deren zwei Letzte (aus Qualitätsgründen) weggelassen und durch 6 teilweise sehr lange Bonustracks ersetzt und ergänzt wurden. Deutlich zu hören, dass Laboratorium noch auf der Suche nach einem eigenen Sound waren. Das Bonusmaterial ist in den Jahren 1972 bis 1974 live aufgenommen worden, die 5 Tracks ab 1973 (44 Minuten) zeigen schon sehr komplexe und aufwändige Strukturen, die wie etliche Songs auf folgenden Alben stark vom Mahavishnu Orchestra inspiriert sind. 1976 veröffentliche die Band ihren Klassiker "Modern Pentathlon". Auf der ersten Seite ist das 20-minütige "Pieciobój nowoczesny" zu hören. Ein 5-teiliges, radikales Stück Jazzrock mit teilweise stark improvisativem Charakter, das die lautmalerischen Vocals von Marek Stryszowski als bestimmendes Element trägt. Die 4 Songs von der zweiten LP-Seite waren einfacher und dennoch eindrucksvoller, intensiver Jazzrock. Als Bonus ist eine grandiose, 29-minütige Liveversion von "Pieciobój nowoczesny" enthalten.
Die weiteren LPs der Band erlangten weit weniger Bekanntheit, obwohl gerade das 1977er Album "Diver", mit englischsprachigen Titeln, eines der gelungensten und leidenschaftlichsten Alben der Band ist. Vorher noch, im gleichen Jahr, erschien die Live-LP "Aquarium Live", mit nur einer Überschneidung zum Studiowerk "Diver". Im Booklet kann man nachlesen, was Bandleader Janusz Grzywacz von den einzelnen Platten hält und welche Songs der LPs seine Lieblingstücke sind. "Aquarium Live" ist in der gleichen Bandphase wie "Modern Pentathlon" eingespielt worden und klingt entsprechend. Als Bonus sind drei Studioversionen von LP-Tracks enthalten. Auf "Diver" sind weitere Bonussongs aus der Zeit enthalten, die noch auf keinem drei letztgenannten Alben waren. Die drei LPs (samt Bonus) sind der außergewöhnliche Kern des Schaffens der Band. Keine Sekunde ist zuviel, Spannung und Intensität sind jeder Zeit von ungemein großer Ausprägung. Grandiose Alben, die allein die Box wert sind.
"Quasimodo" von 1979 erscheint auf den ersten Höreindruck etwas einfacher als die Vorgängerwerke. Laboratorium klangen jedoch stärker rockbetont und flüssiger im Spiel. Einflüsse der Canterbury Szene zeigen sich. Nie zuvor waren Marek Stryszowskis lautmalerische Gesänge gewagter, abstrakter, jazziger - und eingängiger zugleich. Geradezu humorvoll, was hier an schrägen und äußerst abstrakten Harmonien passiert, die er "singt", unterstützt vom elektronischen Keyboardspiel Janusz Grzywacz's. "Lady Rolland", keine zwei Minuten lang, ist ein geniales Stück Musik, das neben kleinem Erschrecken große Überraschung bietet.
Die LP hat 4 sehr kurze und vier sehr lange Tracks drauf, als Bonus sind 4 weitere Stücke enthalten, Liveversionen aus der Zeit, in Krakau aufgenommen, die einmal mehr zeigen, wie leidenschaftlich und verinnerlicht der Jazzrock der Band war. Großartiges Werk und saustarker Jazzrock!
"Norego" aus dem Jahr 1980 beginnt mit einem Schlagzeug-Solo, dem Neuzugang der Band gewidmet, Schlagzeuger Andrzey Mrowiec, der bis zum Ende aushalten sollte. Laboratoriums Jazzrock war nun stärker Funk-orientiert, ambiente Sounds fanden Eingang, trotzdem wandte die Band sich von komplexen Jazzrock-Strukturen nicht ab, was in den 4 Bonustracks, die 1981 live eingespielt wurden, noch einmal deutlich wird. Und doch war der Reiz, der Band zu lauschen, abgeflacht. Zwar sind die Stücke und waren die Konzerte immer noch sehr ansprechend, aber nicht mehr von der außergewöhnlichen Qualität der früheren Alben.
Das Live-Album "The Blue Light Pilot" (1982) zeigte den nächsten bedeutenden Besetzungswechsel. Die beiden Scieranski-Brüder, Pawel und Krzysztof, hatten die Band verlassen. Die Neuzugänge Ryszard Styla (g) und Krzystof Olesinski (b) hielten sich jedoch nicht zurück und spielten ebenso ausgedehnte Unisono-Läufe oder Gegen-Harmonien zum Keyboarder Janusz Grzywacz. Die Musik war wieder etwas poppiger und flotter geworden, zwar waren noch immer komplexe Strukturen und Rhythmen prägend, aber mit einem anderen Sound und Ansatz, Funk war nun ein bestimmendes Element der Band und der 4 langen Tracks. Als Bonus ist nur ein kurzes Stück angefügt worden, so dass die kürzeste CD nur etwa 44 Minuten lang ist.
Weit über 70 Minuten lang ist dafür "No. 8" aus dem Jahr 1984. Die Band hatte mit Jan Pilch einen zweiten Schlagzeuger bekommen, der vor allem Percussions und Marimba spielte. Und wirklich klingen die Songs wieder etwas schräger und komplexer, ohne allerdings die Finger vom Funk zu lassen. Schöne Instrumentalläufe (Texte hat die Band nie gesungen, bis auf die lautmalerischen Gesänge ihres Bassisten/Saxophonisten Marek Stryszowski gab es in den Stücken von Laboratorium nie Gesang) und Gitarren- sowie Keyboardsoli, teilweise improvisatorisch, teilweise streng nach Noten, sind hier zu hören. Das Album klingt toll und frisch, ebenso die drei 32 Minuten der Bonustracks, Liveversionen der LP-Tracks mit ausgedehnten Improvisationen.
Die längste CD, knapp 80 Minuten lang, enthält das Pop-Jazz-Werk "Anatomy Lesson" aus dem Jahr 1986. Wilde Jazzläufe trafen sich mit poppig glatten Rhythmen. Zwar haben Laboratorium auch hier immer noch schräges und abgefahrenes Material drauf, wie sie es bis zum Schluss stets hatten, jedoch war der Rhythmus der Platte den 80ern angepasst. Das gleiche war mit den Sounds der Keyboardpalette passiert, die Janusz Grzywacz spielte, statt der bisherigen Sounds gab es nun Samples, Computerklänge und typischen 80er Diskopop im Jazzgewand. Laboratorium waren zur Tanzband geworden, zur Tanzband mit Extravaganzen, sicher, aber ohne den inhaltlichen Tiefgang der vorherigen und schon gar nicht ihrer klassischen Alben. Die 5 Bonustracks, live gespielt, klingen weit weniger poporientiert, dafür eher an konventionellem Easy Listening Jazz angelehnt, was keinen besonders guten Eindruck macht.
Zum Schluss ist da noch die 10. CD namens "Zdrowie Na Budowie" (70 Minuten), die 13 Tracks enthält, die bisher nicht veröffentlicht worden waren. Zwischen 1974 und 1978 eingespielt, sind vor allem die ganz frühen Tracks aus der Phase vor "Modern Pentathlon" interessant, die einen Großteil der CD ausmachen. Aber auch die anderen Stücke, die, wie Janusz Grzywacz im Booklet meint, den bitteren Kampf um den Platz auf den LPs verloren hatten, zeigen die Band von der besten Seite. Der Schlagzeuger arbeitet wie ein Tier, Tasten und Gitarren leisten gute Arbeit, Gesang und Saxophon halten sich nicht zurück. Doch vor allem die außergewöhnlich exzellente und komplexe Melodiearbeit des Bassisten Krzysztof ?ciera?ski, von dem es hieß, dass er Tag und Nacht am Bass übte, darüber einnickte und mit dem Erwachen wie ein Besessener sofort wieder loslegte, ist extraordinär. Die vielen Bonustracks auf den 9 anderen und die komplette Bonus-CD sind eine überaus große Überraschung. Das Werk Laboratoriums ist mit der Box bestens erhalten und präsentiert. Da jedoch die Box, wie bereits die von SBB (von der nur noch wenige Exemplare erhältlich sind) auf 1.000 Stück begrenzt wurde (aus welchen unerfindlichen Gründen auch immer!), heißt es für Jazzrock-Fans sofort zuzugreifen. Hier gibt es nicht nur grandiose Musik, sondern eine nagelneue Anschaffung mit dem sofort zu wachsen beginnenden Raritätsfaktor!

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