Harry Miller's Isipingo "Which Way Now" (Cuneiform Records 2006)

Der Pressezettel zur CD ist ungemein interessant und beleuchtet umfassend und relativ detailliert Leben und musikalischen Werdegang des Jazz-Komponisten, Bassisten und Improvisatoren Harry Miller, der im britischen Jazz der 60er und 70er Jahre eine bedeutende Rolle spielte. Als Harold Miller in Johannesburg, Südafrika, geboren, spielte er bereits als 13-Jähriger mit seinen Freunden Jazz, darunter auch Manfred Lubowitz (aka Manfred Mann). Miller war in der ersten südafrikanischen Rock'n'Roll Band, The Vikings, aktiv, die 1959 und 1961 jeweils eine LP einspielten, auf denen Miller den Double-Bass bediente.
Wie viele andere Musiker auch ging Harry Miller nach England, Ende 1961 verließ er Südafrika, nachdem das Land zur Republik geworden war. In England spielte der mit Mike Westbrook, Keith Tippett, King Crimson ("Islands"), Brotherhood Of Breath und vielen weiteren Künstlern der Szene in Bands und Projekten, gründete 1974 mit seiner Frau Hazel Ogun Records, auf dem er bis 1979 über 30 LPs veröffentlichte.
Miller wurde DER Bassist der britischen Jazzszene, tourte unentwegt und machte Aufnahmen, die auf vielen LPs verewigt worden sind. 42-jährig starb Harry Miller 1983 während eines Sturmes im Auto auf Tournee.
Nick Evans (pos), Mongezi Feza (tr), Harry Miller (b), Louis Moholo (dr), Mike Osborne (as) und Keith Tippett (p) spielten die 4 langen Stücke am 20. November 1975 in der Post-Aula in Bremen ein. Das Konzert wurde glücklicher Weise, wie viele weitere von Radio Bremen aufgenommen und ist somit erhalten geblieben. Die Soundqualität ist außerordentlich dynamisch und lebendig.
Ebenso die Musik. Die 4 Miller-Kompositionen werden in ausgedehnten Improvisationen hinreißend variiert, das Gebläse röhrt unentwegt, während das Piano im Off das Motiv hält und abstrakte Figuren intoniert. Das Schlagzeug bestimmt die Basis, gemeinsam mit dem Bass, dem Miller ohne Pause melodische Motive entlockt, die sich in die Sinne bohren wie der Bergmann in den Berg. Die einzelnen Soli klingen, ganz abhängig vom Charakter und der Stimmung des Improvisierenden, mal virtuos und harmonisch, mal abstrakt, leidenschaftlich und wild. Inmitten eines Stückes wechselt Schlagzeuger Louis Moholo einige Male die Betonung des Rhythmus. Wenn die Band sich im Motiv wieder vereint und die Komposition kraftvoll spielt, geraten die Musiker ob ihres voluminösen Klanges in Euphorie und spielen sich gleich darauf wieder in langen Improvisationen Finger und Lippen wund. Aber nicht nur die Bläser, auch Miller am Bass und Tippett am Piano haben weiten Raum für Improvisationen, den sie herzhaft und ausgelassen nutzen. Harry Millers hochmelodische Läufe sind die Architektur der Songs, jedes Instrument ist einmal mit Improvisieren dran, doch stets bleibt Millers Stehbass aktiv und macht mit Piano und Schlagzeug diese einzigartigen Figuren, die hypnotisieren und überwältigen.
Das in dieser Tonqualität zu hören, ist eindrucksvoll. Nicht weniger eindrucksvoll war es damals, am Radio zu sitzen und diesen erdigen, lebendigen, intensiven Sound, diese hinreißende Musiksprache zu hören. Rauschen, Pfeifen und Störgeräusche, die den Sender überlagerten, nahmen aber nichts von dem Eindruck. So intensiv und hingebungsvoll klingt heute keine Band mehr. Es war nicht der beste Klang, der angestrebt wurde, nicht das technisch ausgefeilteste Motiv, sondern die vollkommene Hingabe an die Musik und das Versinken in diesen Tönen, die besoffen und glücklich machten. Jazz wie Rock waren damals in diesem Soundgewand neu und überwältigend für Musiker wie Freaks, dieser Eindruck bleibt. Dank Isipingo, Radio Bremen und Cuneiform Records.

cuneiformrecords.com
VM



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