WARREN SUICIDE im September 2004

Sind wir nicht alle ein bisschen Warren

Interviews auf Festivals stecken immer voller Überraschungen und Unwägbarkeiten. Doch meistens beziehen sie daraus auch ihren ganz eigenen Reiz, ihre Einzigartigkeit. Genau wie das Gespräch mit Cherie, Fremdkörper und Nackt von Warren Suicide am Rande des Meralunas 2004. Trotz der frühen Stunde, knapper Zeit seitens der Band und vergessener Aufnahmemedien seitens des Interviewers entwickelt sich eine heitere Plauderei über das gleichnamige Debütalbum des Trios, den Gefühlszustand Warren und nicht erlernte Berufe. Leider musste sie viel zu
früh beendet werden.


ragazzi: "Wie ist es für euch, um elf Uhr als erste Band auf einem Festival zu spielen?"
Alle: "Super! Es ist doch eine Ehre den Festivaltag eröffnen zu dürfen."
ragazzi: "Und ward ihr mit den Reaktionen des Publikums zufrieden? Immerhin seid ihr keine typische Gothic-Band."
Nackt: "Das ist egal. Auch wenn nur ein paar Leute feiern, ist das geil."
Fremdkörper: "Wir haben keinen bestimmten Musikstil. Deshalb erreichen wir Leute aus den verschiedensten Szenen. Und dass wir das geschafft haben, darüber sind wir sehr froh."
Nackt: "Wenn wir erst oft genug gespielt haben, haben wir auch unsere eigenen Fans. Darum macht es so viel Spaß, die alle einzusammeln. Denn die, denen es heute gefallen hat, die sehen wir beim nächsten Mal bestimmt wieder."
Cherie: "Wir haben nach unserem Auftritt beim Wave-Gotik-Treffen viele positive Mails und Gästebucheintragungen bekommen. Das war echt toll."
Fremdkörper: "Die Konzerte, bei denen das Publikum am buntesten gemischt ist, sind sowieso immer die besten."
ragazzi: "Ihr habt den Sisters-Of-Mercy-Song "Black Planet" gecovert. Warum habt ihr ihn nicht gespielt? Der hätte hier doch 1a gepasst!"
Fremdkörper: "Irgendein Journalist hat im Festival-Heft einen komischen Artikel über uns geschrieben. Wir hätten uns an dem Song vergriffen, meinte er, und da wollten wir ihm zeigen, dass es auch ohne diesen Titel geht."
Cherie: "Obwohl wir den Track sehr, sehr mögen!"
ragazzi: "Könnt ihr mal kurz eure Bandgeschichte erzählen?"
Nackt: "Fremdkörper und ich haben früher in einem etwas mageren Projekt namens Linientreu Musik gemacht. Das lief aber nicht so gut. Wir waren sehr unzufrieden. Deshalb beschlossen wir damit aufzuhören und völlig befreit davon Musik zu machen. Wir haben uns dann bei mir getroffen und nach vier Stunden Arbeit war der Track "Warren Suicide", so wie er heute auf Platte ist, fertig. Cherie ist dabei gewesen und hat parallel die Figur Warren geschaffen. Da war klar, dass dieser Charakter Warren Suicide ist. Cherie hat ihm ein Aussehen gegeben."
Cherie: "Es war auch gleich klar, dass wir die Band so nennen und wir von Warren durch dieses Abenteuer geleitet werden."
ragazzi: "Wer oder was genau ist Warren für euch? Euer Kind? Euer Leitmotiv?"
Cherie: "Unser Untergang…"
Nackt: "Warren ist ein Gefühl, ein Zustand. Das ist wirklich so. Es ist wie jeder gute Rauschzustand. Man kann es absichtlich herbeiführen, man kann es provozieren und trotzdem passiert es manchmal auch nicht. Es passiert fast immer nur, wenn wir zu dritt sind. Außer bei Cherie, aber sie kennt ihn auch länger. Ich glaube, dass in jedem Warren steckt und dass man es gut findet, wenn man es denn sieht."
ragazzi: "Auf eurem Debütalbum "Warren Suicide" sind nur sieben Songs. Es gibt zwar eine DVD dazu, dennoch finde ich das etwas wenig. Warum ist das so?"
Nackt: "Es ist eher eine Einführung in die Welt Warren Suicides. Diese Tracks sind eine Phase der Band. Natürlich haben wir mehr Songs. Aber die stammen schon wieder aus einer anderen Phase. Die ersten sieben Tracks sind alle in einer Welle entstanden. Deshalb sollen sie, zusammen mit der Website, nur den Anfang darstellen. Mit den neueren Titeln wird sich das ganze Bild dann komplettieren."
ragazzi: "War der letzte Song eures Sets aus dieser neuen Phase? Er unterschied sich deutlich von den anderen, war rockiger, songorientierter…"
Fremdkörper: "Ja, das stimmt. Wobei das nicht heißen soll, dass wir uns jetzt dieser klassischen Songstruktur anpassen werden. Wir werden auch in Zukunft den Spagat zwischen den Stilen wagen. Aber wir hatten einfach das Bedürfnis ein paar klassische Songs für uns zu schreiben."
ragazzi: "Eure Shows zeichnen sich durch ganz eigene Videoinstallationen aus. Sind Musik und Bild bei Warren Suicide zwei unzertrennliche Dinge?"
Nackt: "Warren ist optisch immer präsent. Wir würden keinen Gig spielen, wenn er auf der Bühne nicht zu sehen ist. Früher dachten wir auch, dass die Leute die Songs ohne die Bilder nicht kapieren. Das glaube ich zwar nicht mehr. Aber nur mit Bild und Musik zusammen ist Warren Suicide komplett."
ragazzi: "Wer entwirft die Bilder, wer produziert die Videos?"
Cherie: "An der Konzeption sind alle beteiligt, die Ausführende bin aber ich. Manchmal schlüpft Warren in mich…"
Nackt: "Warren muss einen an der Hand führen. Wenn das nicht passiert, wenn man versucht die Bilder optisch zu erfassen, dann wirkt alles ganz anders. Das ist sehr faszinierend. Deshalb würde ich sagen, dass es Warren selbst ist."
Cherie: "Also ich bin zweifelsfrei Warrens Mutter. Ich habe ihn getroffen als ich zwölf war. In Warren Suicides Welt kann die Musik ohne die Bilder und auch die Bilder ohne die Musik sein. Dann haben aber beide eine andere Wirkung."
ragazzi: "Welchen beruflichen Background habt ihr. Was habt ihr gemacht, bevor ihr Musiker wurdet?"
Nackt: "Wir haben in England Kunst studiert. Danach haben wir in Boston diesen Kurs belegt - ich weiß nicht mehr wie der hieß - aber wir haben ihn auf jeden Fall abgeschlossen. Dann sind wir nach Hause gekommen und haben keinen Job gekriegt. Und deshalb machen wir jetzt Musik." (alle lachen)
Cherie: "Ich habe schon immer gesungen, habe Kunst studiert und mache jetzt auch noch Grafiken, Performances und Video. Fremdkörper hat auch schon immer gesungen und Nackt ist professioneller Musiker."
Nackt: "Nee, komm, das machen wir jetzt noch mal. Frag noch mal nach unseren Berufen!"
ragazzi: "Welche anständigen Berufe habt ihr mal gelernt?"
Nackt: "Es tut mir leid. Keiner von uns hat einen anständigen Beruf erlernt. (riesiges Gelächter). Es ist leider wirklich so."
Cherie: "Ich hab Abi!"
Fremdkörper: "Hör auf dich hier zu profilieren! Ich hab auch Abi."
Cherie: "Was? Du auch?"
Fremdkörper: "Ja, aber das streichen wir. Denn Nackts erste Antwort war doch die beste."
ragazzi: "Und sie wurde absolut glaubhaft rübergebracht. Die Geschichte passt zu euch, wenn man euch so auf der Bühne sieht…"
Nackt: "Wie sind wir denn auf der Bühne?"
ragazzi: "Ein sympathischer Chaotenhaufen."
Nackt: "Mist, wir sind immer noch sympathisch."
Cherie: "Wir brauchen eine Live-Blut-Show."
ragazzi: "Darf ich euch nach euren Künstlernamen fragen? Warum Fremdkörper und Nackt?"
Fremdkörper: "Weil ich mich wie ein Fremdkörper in der Gesellschaft fühle. Der Name passt zu mir. Ich fühle mich wohl mit ihm."
Nackt: "Bei Nackt geht es um Authentizität, um Echtheit, Ehrlichkeit, um den Mut, sich nackt zu präsentieren. Alles Dinge, die im Gegensatz zu dem stehen, was man sonst im Leben darstellen muss. Was meine Person bei Warren Suicide angeht, was man sehen kann, ist Nackt."
ragazzi: "Würdest du dich nackt auf die Bühne stellen?"
Nackt: "Das habe ich schon gemacht."
ragazzi: "Und Cherie bildet dazu den optischen und namentlichen Kontrast? Das sanfte, zarte, liebliche…"
Nackt: "Cherie sieht zwar klein aus, aber sie ist nun mal Warrens Mutter und somit die einzige, die Kontrolle über ihn hat. Wir sind dagegen die Kumpels, die Spielkameraden."
ragazzi: "Welche Zukunftspläne hat Warren? Ist er eigentlich schon in der Pubertät?"
Cherie: "Ja. Er ist ausgewachsen. Wie sagt man - er ist empfängnisbereit - nein…"
ragazzi: "Volljährig? Geschlechtsreif?"
Cherie: "Zeugungsfähig! Geschlechtsreif! Das meine ich. So wie wir alle."
Nackt: "Ich will ja nicht drängeln, aber ich muss jetzt los, sonst verpasse ich meinen Flieger."
ragazzi: "Dann sage ich Danke für das Interview und für den Mitschnitt-Service. Das war eine große Hilfe!"

LARS




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