Alternative Electronic statt Futurepop

Im ragazzi-Interview: VNV NATION am 22.03.2005

Es ist ein untrügliches Zeichen für den Erfolg des englischen Elektro-Duos: Seit über vier Stunden am Stück muss sich Ronan Harris, Sänger und musikalischer Kopf von VNV Nation, nun schon von Journalisten löchern lassen. Aber von Erschöpfung oder Unlust keine Spur, als er ragazzi Rede und Antwort steht.




ragazzi: "Auf der Presse-Version des aktuellen Albums sind sämtliche Stücke nur zwei Minuten lang - mal abgesehen von der Singleauskopplung "Chrome". Was ist der Grund dafür?"
Ronan: "Viele Labels tun dies inzwischen, damit die Platte nicht vor Veröffentlichung auf dem Markt ist. Wir denken, dass man aber trotzdem einen guten Eindruck von den neuen Stücken bekommt. Was natürlich fehlt, ist der Gesamteindruck des Albums."
ragazzi: "Habt ihr als Band denn besonders schlechte Erfahrungen bezüglich illegaler Downloads machen müssen?"
Ronan: "Ja, mit "Futureperfect". Es hat mich schockiert, dass jemand das Album noch vor der Plattenfirma hatte, also bevor es aus dem Presswerk kam. Es stand sofort im Netz, ein DJ in Los Angeles hat 200 Kopien gemacht und sie verschenkt, um zu zeigen, dass Musik umsonst sein sollte."
ragazzi: "Kannst du eigentlich von deiner Musik leben?"
Ronan: "Oh ja, ich muss. Ich stand vor der Wahl, VNV Nation als Hobby zu betreiben oder als "Full-Time-Job". Wenn du viele Ideen umsetzen willst, geht das nur, wenn du keine Einschränkungen hast."
ragazzi: "Ronan, wenn du das neue Album mit früheren Produktionen vergleichst, wo - würdest du sagen - liegen die markantesten Unterschiede?"
Ronan: "Der Sound hat sich insgesamt verändert. Wir haben uns noch stärker auf das Songwriting und die Emotionen konzentriert. Das Album ist sehr vielfältig, jeder Song für sich ist perfekt und abgeschlossen. Da sind keine halben Sachen drauf."
ragazzi: "War der Entstehungsprozess dieser Platte auch ein anderer als früher?"
Ronan: "Als ich ins Studio ging, hatte ich 16 fertige Titel. Auf dem Album sind nur zwei davon. Das lag an der ganzen Atmosphäre in den Aufnahmeräumen. Sie hat mich stark inspiriert, neue Songs zu schreiben. Und ich konnte einfach nicht aufhören. Gleichzeitig waren viele andere Musiker und Produzenten um mich herum. Der Keyboarder von Jean-Michelle Jarre beispielsweise, der Drummer von Pink Floyd, House-und Techno-Musiker… Das alles hat mich beeinflusst."
ragazzi: "Auf "Matter and Form" sind vier der zehn Titel Instrumentals. Und auch auf früheren Alben gab es immer mehrere Songs ohne Vocals. Was ist das Kriterium für oder gegen Vocals?"
Ronan: "Wenn ich einen Song schreibe, höre ich entweder die Stimme dazu bereits im Kopf oder aber ich habe eher soundtrackartige Ideen. Ich entscheide nie bewusst, dieser Titel bekommt einen Text und dieser nicht. Du brauchst nicht zwangsläufig Vocals, um etwas Bestimmtes auszudrücken."
ragazzi: "Die erste Auskopplung aus dem neuen Album ist "Chrome", allerdings nicht erhältlich im üblichen CD-Format, sondern ausschließlich und exklusiv über eure Website. Warum habt ihr euch für diesen Distributionsweg entschieden?"
Ronan: "Wir wollten den Fans schon einen Monat vor Veröffentlichung des Albums die Chance geben, einen Song zu hören. Außerdem wollte ich mal die neue Download-Technologie ausprobieren. Allerdings konnten weder iTunes noch Musicload garantieren, dass der Song pünktlich online zur Verfügung steht. Und so haben wir den Track auf www.vnvnation.com gestellt. Diese Art der Promotion war viel effektiver als über eine herkömmliche Single und auch sehr erfolgreich. Die Fans überall auf der Welt haben "Chrome" zur selben Zeit und zum selben Preis bekommen."
ragazzi: "Mit Anachron Sounds hat VNV Nation ein eignes Label gegründet. Weil ihr die gesamte Kontrolle behalten wolltet oder um so viel Geld wie möglich in die eigenen Taschen zu stecken?"
Ronan: "Der Hauptgrund war künstlerische Freiheit, die uns kein Label wirklich bieten konnte. Wir haben die volle Kontrolle über alles, was wir veröffentlichen, wie es klingt, wie es aussieht etc. Das Einzige, was nervt, ist die Büroarbeit. Aber wenn du nur einen Künstler hast, ist es nicht ganz so schlimm."
ragazzi: "Auf eurem Label sind also keine anderen Bands?"
Ronan: "Nein, im Moment nicht. Aber das kann sich in Zukunft auch ändern."
ragazzi: "Von Platte zu Platte seid ihr erfolgreicher geworden, und zwar längst nicht mehr nur in der "Schwarzen Szene". Euer letztes Album stand auf Platz 26 in den Media Control Charts. Wo siehst du die Gründe für diesen Erfolg?"
Ronan: "Wir versuchen, Musik mit einem hohen Anspruch zu machen. Ich denke aber auch, es ist unsere Ehrlichkeit. Wenn wir auf der Bühne stehen, sind wir wirklich wir selbst. Wir sprechen mit den Leuten und auch unsere Texte sprechen sie an.
Die meisten Anhänger haben wir schon in der EBM- und Industrialszene. Aber in Amerika kommt immerhin die Hälfte unseres Publikums nicht aus der "Schwarzen Szene". Das sind Menschen, die alle möglichen Arten alternativer Musik mögen. Für uns ist es ein großes Kompliment, wenn Leute unsere Musik hören, die sonst Alternative Rock, Dance oder Punk bevorzugen."
ragazzi: "Neben den vielen Fans, die ihr habt, gibt es auch immer wieder kritische Stimmen, die meinen, was ihr macht, ist "Weiberelectro" und einfach nur langweilig… Stört euch das?"
Ronan: "Nein! Mich interessiert überhaupt nicht, was die Kritiker schreiben. Ich habe mir noch nie ein Album gekauft, weil einer gesagt hat, es sei großartig oder Scheiße.
Futurepop wurde 1999/2000 der Stil von Bands wie VNV, Covenant und Apoptygma Berzerk genannt, um zu beschreiben, dass wir auch Einflüsse außerhalb der Szene verarbeitet haben. Von Bands wie Underworld und Massive Attack.
Sobald du aber eine stilistische Schublade wie Futurepop öffnest, ist der Stil tot. Futurepop beschreibt überhaupt nicht mehr, was wir machen. Schon auf "Futureperfect" gab es viele verschiedene Stile. Und die neue Platte klingt wiederum völlig anders."
ragazzi: "Wenn VNV Nation keinen Futurepop machen, was dann?"
Ronan: "Ich würde es Alternative Electronic nennen."
ragazzi: "Ronan, wenn du als DJ auflegst, ist der Sound sehr verschieden von der Musik, die du mit VNV Nation machst. Warum?"
Ronan: "Ich spiele verschiedenste Stücke, die für mich alle in den Club gehören. Ich möchte an dem einen Abend, wenn ich im Club auflege, etwas anderes spielen als üblicherweise geboten wird."
ragazzi: "Letzte Frage: Was wird Aufregendes auf der Tour passieren?"
Ronan: "Viel Neues. Neue Songs, eine neue Bühnenshow mit neuen Videos. Und wir werden andere Musiker mit auf der Bühne haben."

Stefan




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