Emotionen und Electro

Ein Gespräch mit Ronan Harris (VNV Nation)

"Futureperfect" nennen VNV Nation ihre neue Platte, die im Januar erscheinen soll und bereits sehnsüchtig von den Fans der Electroformation erwartet wird. Wer bereits vorab neues Material hören wollte, konnte dies auf einem der Gigs während der gerade zu Ende gegangenen Tour tun. Vor dem Auftritt in Dortmund hatte ich Gelegenheit zu einem Interview.
Auf dem Sofa mir gegenüber nahm ein entspannt wirkender Ronan Harris, Kopf von VNV Nation, Platz. Es war bereits unser zweites Treffen nachdem wir uns Anfang des Jahres im Londoner Szeneclub "Slimelight" begegnet waren. Damals erzählte mir Ronan, dass er einen Umzug nach Hamburg plane. Zunächst wollte ich wissen, was aus diesem Vorhaben geworden ist.
 
Ronan Harris: "Ich bin hier und lebe seit Juni in Hamburg."
ragazzi: "Warum hast du dich entschieden, deinen Wohnort zu wechseln?"
R.H.: "Ich war in letzter Zeit oft in Deutschland. Von Beginn an habe ich mich hier zu Hause gefühlt. Ich weiß noch immer nicht warum. Wir haben viele Fans in Hamburg und ich mag die sehr freundlichen und hilfsbereiten Menschen dort. Wenn ich in einen Szeneladen gehe, dann macht mich niemand an. Außerdem ist es praktisch für mich wegen der Steuern."
ragazzi: "In welche Clubs gehst du in Hamburg?"
R.H.: "Wenn ich weggehe, möchte ich vor allem Leute treffen und mit ihnen quatschen. Deshalb gehe ich dort hin, wo meine Freunde sind. Zum Abtanzen manchmal in den "Mojo", was allerdings kein "schwarzer" Club ist. Das Problem vieler deutscher Clubs ist, dass dort oft die immergleiche Musik läuft. Die DJs spielen nur selten etwas Unbekanntes oder Ungewöhnliches, was z.B. im "Slimelight" viel häufiger passiert. Dort ist man offener, was die Musik betrifft. Ich mag keinen DJ, der denkt: Das kann ich nicht spielen, weil die Mehrheit vielleicht nicht tanzt."
ragazzi: "Stichwort Schwarze Clubs und Schwarze Szene. Gibt es aus deiner Sicht Unterschiede zwischen England und Deutschland?"
R.H.: "In England kennt fast jeder jeden in der Szene. Man trifft viele Bekannte auf den Konzerten, von denen in England allerdings weniger stattfinden als hier. Die Leute im Vereinigten Königreich sind weniger zurückhaltend und hören eine größere Vielfalt an Musik. Hardtrance ist z.B. sehr populär unter englischen Goths, was für viele hier unvorstellbar ist. In englischen Gothic-Clubs wirst du auch Sachen wie Prodigy, Leftfield und Massive Attack hören. Eben alles, was cool ist und einen Underground-Vibe hat.
In Englands Schwarzer Szene spielen die Kommunikation und der freundschaftliche Umgang miteinander eine große Rolle. Englische Goths sind eher "down to earth". Dagegen scheint sich in Deutschland oft alles um die Frage zu drehen, wer "mehr" Gothic ist."
ragazzi: "Wie muss man sich die Zusammenarbeit zwischen Mark, der anderen Hälfte von VNV Nation, und dir vorstellen? Ist sie komplizierter geworden aufgrund der verschiedenen Wohnorte?"
R.H.: "Nein, überhaupt nicht. Ich schreibe unsere Musik und Texte, wobei ich Marks Vorstellungen kenne und beachte. Das ist eine sehr produktive Vorgehensweise. Nie würden wir etwas spielen, mit dem wir nicht beide einverstanden wären. Wie diskutieren alle meine Vorschläge. Auf diese Weise beeinflusst auch Mark unsere Musik."
ragazzi: "Wie ist der neueste Stand der Dinge in Hinblick auf das zu erwartende Album?"
R.H.: "Das Album ist fertig, es wird im Januar erscheinen, wahrscheinlich in der Mitte des Monats."
ragazzi: "Was können eure Fans von "Futureperfect" erwarten?"
R.H.: "Es wird deutliche Veränderungen im Vergleich zu "Praise the Fallen" und "Empires" (die beiden letzten Alben der Band, Anm. d. Verf.) geben. Die Songs auf dem neuen Album werden von größerer Vielfalt sein als die auf "Empires". Jeder Titel ist anders und doch passen sie alle zusammen.
Die Texte beschäftigen sich mit dem Begriff "Futureperfect" und seinen unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten. Mal sind sie ironisch, mal zynisch, dabei aber nie ohne Optimismus. In den siebziger Jahren hatte elektronische Musik eine weitaus positivere Attitüde als dies in den folgenden Jahrzehnten der Fall war. Ich bin mit Bands wie Kraftwerk und Tangerine Dream aufgewachsen. Es ging damals z.B. um glückliche Menschen, die auf Autobahnen in andere Länder fahren. Du findest solche Einflüsse genauso auf dem Album wie die melancholischen und apokalyptischen. Aber selbst der düsterste Song endet mit einer Hoffnung. Ich bin einfach kein Nihilist.
Das Album wird einige Leute überraschen, weil es neue Seiten von VNV Nation zeigt. Es wäre langweilig, würden wir ausschließlich das machen, was man schon von uns kennt. Aber keine Angst - auch auf "Futureperfect" findest du diese spezielle, emotionale Atmosphäre, die den VNVN-Sound geprägt hat. Ich finde, sie ist sogar noch stärker geworden."
ragazzi: "Es ist inzwischen schon Tradition bei VNV Nation, erst zu touren und dann die neue Platte zu veröffentlichen. Warum? Und wie läuft die Tour bisher?"
R.H.: "Es läuft sehr, sehr gut. Besser als wir je dachten. Auf der letzten Tour hatten wir nicht so viele Besucher, nicht solche euphorischen Reaktionen der Leute und auch nicht die technischen Möglichkeiten, die wir dieses Mal haben. Eigentlich halte ich uns noch immer für eine kleine Band, die einfach nur Musik macht und daran Spaß hat. Wenn du aber ein Konzert mit 950 Leuten erlebst oder wie heute Abend eine Schlange von 300 Leuten vor der Halle stehen siehst, dann ist das unglaublich. Es ist manchmal schwierig, das zu verstehen. Ich sehe es aber nicht als Selbstverständlichkeit, das wäre arrogant. Es macht mich einfach glücklich, denn es ist schön, so viele Leute zu sehen, die alle deine Musik hören und dazu tanzen.
Wir touren bevor wir eine neue Platte veröffentlichen, weil wir auf diese Weise die Möglichkeit haben, den Leuten die Gefühle und die Leidenschaft unserer Songs nahezubringen und so ihr Interesse zu wecken. Das heißt, wir selbst promoten unser Album. Wenn man dann die neuen Songs mag, geht man in den Laden und holt sich das Album."
ragazzi: "Ronan, im Internet findet man im Kontext der Veröffentlichung von "Futureperfect" folgende Aussage von dir: "Es ist wichtig, dass man spürt, dass man lebt". Was steckt dahinter?"
R.H.: "Es gibt viele Bands in unserer Szene, die sich mit sehr dunklen Themen beschäftigen, was ich nicht negativ meine. Wir sind aber anders. Mir geht es um Gefühle, ich bin ein sehr lebendiger Mensch. Ich möchte, dass die Leute, die zu unseren Konzerten kommen, das Blut in ihren Adern spüren. Sie sollen sich nicht traurig, sondern lebendig fühlen. Leben heißt für mich fühlen und atmen. Jemand sagte einmal treffend: "Das Wichtigste im Leben ist zu leben."
Manche Leute kritisieren uns wegen diese emotionalen Attitüde und meinten, es wäre nicht authentisch, was wir auf der Bühne ausdrücken. Ich kann nur sagen, das stimmt nicht. Ich bin es, der auf der Bühne steht und genau das denkt und fühlt, was er singt. Es ist großartig, wenn es auch für unser Publikum etwas bedeutet."
ragazzi: "Heißt das, ihr habt eine Message zu "verkünden"?"
R.H.: "Ja, irgendwie schon. Ich möchte zeigen, wie ich bestimmte Dinge sehe. Die Welt ist nicht nur langweilig, sondern in ihr steckt auch Magie. Die Leute, die unsere Musik hören, sollen wissen, dass es jemanden gibt, der so denkt wie sie. Ich möchte diese Menschen zusammenbringen. Die Message ist schwer in Worte zu fassen. Ich versuche, das Gefühl zu vermitteln, dass du nicht allein bist. Es ist etwas Metaphysisches."
ragazzi: "Diese Gefühle kommen besonders auf euren Konzerten sehr gut rüber. Ich erinnere mich noch gut an euren Auftritt auf dem M'era luna im vergangenen Jahr..."
R.H.: "Oh ja. Es ist sogar noch besser geworden. Es ist eine Art feierliche Atmosphäre, wenn Tausende unsere Songs mitsingen und glücklich sind. Das ist wirklich verblüffend. Die Grenze zwischen mir auf der Bühne und den Leuten in der Halle verschwindet, jeder ist Teil einer großen Gemeinschaft."
ragazzi: "Auf eurer momentanen Tour setzt ihr verstärkt auf visuelle Elemente. Warum konzentriert ihr euch nicht ausschließlich auf die Musik?"
R.H.: "Also, wenn es nur um die Musik ginge, könnte man auf den Konzerten Kopfhörer austeilen und wir könnten hinter einer schwarzen Wand spielen. Aber so ist es ja nicht.
Die Videos unterstützen unsere Songs, liefern Denkanstöße und erzeugen Assoziationen. Einige schaffen schlicht Background-Atmosphäre, andere sind dramatischer, manche sogar theatralisch. Obwohl die Videos insgesamt "künstlerischer" geworden sind, bedeuten sie für uns nicht mehr als Ergänzungen zu unseren Songs."

SteBa






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