Phlox Interview von Mai bis Juni 2009


Die gute Nachricht: siehe Ende des Interviews. Die schlechte: mittendrin. Phlox hatten vor "rebimine + voltimine", ihrem Granateneinschlag in die zumeist recht verpennte Jazzrock-Szene bereits zwei Alben eingespielt. Erwähnt Nichtgründungsmitglied Pearu Helenarum, von Gründungsmitgliedern und anderen Bandmusikern abgesegnet, in einer der interessanten Antworten.
Album Nummer drei ist es, das zeigt, was geht. Wer lauten, hart rockenden Radikaljazzrock in progressiver Komplexfülle mag, darf sich die Platte nicht entgehen
lassen - und vorher ein paar Statements
des jetzigen Klaviaturisten erlesen.



Ragazzi: "Wann wurde die Band gegründet und was war der Plan?"

Phlox: "Phlox wurde im Winter 1999/2000 von Kristo Roots und Raivo Prooso gegründet, und ein paar anderen Typen, die bald wieder ausstiegen. Es gab keinen großartigen Plan, soweit ich das weiß. Es ist auf ganz natürliche Weise gewachsen."

Ragazzi: "Welche Musik hattet ihr im Auge und wie hat sich das im Laufe der Zeit verändert?"

Phlox: "Alles war möglich, in vielerlei Hinsicht. Wir erreichten Punkte des totalen Chaos, aber als der Krach uns im Laufe der Zeit zu langweilig wurde, schlichen sich wieder komponierte Punkte ein, die mehr und mehr ausgefeilt und kompliziert wurden, nur damit es interessant für uns bliebe."

Ragazzi: "Woraus bezieht ihr Inspiration, wie habt ihr, ganz persönlich, zu eurem musikalischen Stil gefunden, und wie zu dem der Band?"

Phlox: "Indem wir die Ohren offen gehalten hatten, eine große Auswahl verschiedener Musik gehört haben, von klassisch indischer oder japanischer zu afrikanischer, Musik der Inuit und Tuva Folklore, Klangexperimenten, Jazz. Bei einigen von uns hat die Musikschule ein wenig nachgeholfen.
Spezielle Einflüsse… Mitte der 90er gründeten Freunde von uns eine kleine Szene für "selbst gemachte" (nicht-akademische) Instrumentalmusik mit ausgedehnten Improvisationsparts - Tarvo Kaspar Toome mit "Megan", Tikas Bruder mit "BF", Mihkel Kleis und "Luarvik Luarvik". Phlox ist die vierte Station.
Die hauptsächlichen ausländischen Einflüsse kommen unbestreitbar aus der Canterbury Szene, vor allem Soft Machine, Magma, Coltrane, Zorn, eine Menge zeitgenössischer französischer Jazzmusiker wie Sclavis, Ducret, Collignon, Emler.
Zudem Gesang von Vögeln und Walen, Fernverkehrsgeräusche, Hafen- und Fabriklärm, Geräusche von Katzen und Insekten, alle Arten ethnischer, elektronischer, experimenteller, zeitgenössischer klassischer Musik usw."

Ragazzi: "Wie sieht das in Estland heute mit eurer Art Musik aus, gibt es neue und junge Bands und Fans? Wie war das in der Vergangenheit, gab es in den 1960ern und 70ern Bands und Fans progressiver Musik?"

Phlox: "Im Augenblick kommt eine große neue Welle junger instrumentaler Prog/Jazz, Rock/Avantgarde Bands auf. Einige klassisch ausgebildet und professionell, dass dir die Kinnlade herunterfällt, obschon einige der Musiker erst 16 Jahre alt sind - die Prominentesten darunter sind Jakob Juhkam und Valter Soosalu, andere sind von jungen Männern gegründet worden, die noch nichts drauf haben. Im Zuge dessen sind Bühnen und Publikum auf diesen Events seit kurzem inflationär gewachsen.
Und ja, es gab Leute, die diese Art Musik seit den frühen 70ern gespielt haben, wie überall anderswo auch. Die einzige laue Periode waren die frühen und Mittneunziger, als Megan und BF vor uneingeweihtem Publikum spielten, das hin und wieder leichte Schwierigkeiten hatte, zu verstehen, was da passierte. In den früheren Dekaden gab es eine lange Liste Prog- und Avantbands: Mess, In Spe, Kaseke, Ruja, Tunnetusüksus, usw."

Ragazzi: "Wer komponiert die Songs, und wie bringt ihr die Arrangements zustande, wie wachsen die Ideen zu Songs? Arbeitet ihr sie in Bandsessions aus oder bringt ein Jeder perfekt ausgefeilte Ideen/Kompositionen/Arrangements ins Geschehen?"

Phlox: "Die meisten Kompositionen werden zu Hause fertig ausgeschrieben, vor den Proben, entweder von Kristo Roots, Madis Zilmer oder mir. Zuletzt haben wir uns angewöhnt, MP3s mit voll ausgeschriebenen Arrangements mitzubringen, mit einem Midi-Keyboard aufgenommen oder anderswie programmiert, mit der kompletten Notation. Einige kleinere strukturelle Veränderungen mögen dann noch zustande kommen in den Proben, aber das Meiste ist zu Hause gekocht."

Ragazzi: "Diskutiert ihr euren Heavy Sound oder ist er sowieso DAS Ding, das ihr hören und nichts anderes spielen wollt?"

Phlox: "Wir reden nicht viel darüber. Gewiss sind die Resultate Kompromisse, wir sind sechs Typen in der Band und die Geschmäcker sind unterschiedlich. Definitiv versuchen wir nicht, dieses oder jenes Genre nachzuvollziehen, und wenn es so etwas wie "unseren" Sound gibt, hat es sich nur entwickelt, weil es fürchterlich schwierig (und zudem unnötig) ist, dich für jedes Stück komplett zu drehen."

Ragazzi: "Spielt ihr die Songs live in der Studioversion? Covert ihr Tracks von anderen/alten Bands der Szene in Konzerten?"

Phlox: "Mehr oder weniger, aber sie verändern sich immer ein wenig, wir schneiden etwas raus oder nehmen was Neues dazu, mixen verschiedene Tracks zusammen.
Covers spielen wir sehr selten. Aber wir sind Teil eines verrückten Orchesters von etwa 50 Leuten, der Estonian Bad Dream Big Band, in der die meisten Musiker von MKDK Bands live zusammen spielen. Ein Chor von etwa 20 Leuten, Harfen, Violinen, Sänger, Sitars, und am wichtigsten die Bläsersektion mit ein paar professionellen Bläsern, die in symphonischen Orchestern spielen, zu denen etwas mehr als 10 Typen kommen, die ihre Trompeten nicht wirklich spielen können, aber höllelaut blasen. Mit diesem absurden Line-Up spielen wir Cover anderer Musik. Und einen Brigitte Bardot Song."

Ragazzi: "Wie ist der Vertrag mit MKDK Records zustande gekommen, und wie habt ihr die Unterstützung des Eesti Kultuurkapital bekommen?"

Phlox: "MKDK ist keine echte Plattenfirma, es ist ein Bund alter Freunde, zeitweiser Musiker, Künstler, Leuten aus der Medien-Photo-Fil-Welt usw. Es ist als Null-Profit-Unternehmen eingetragen. Wir sind schon immer ein Teil davon, es gibt keinen Vertrag. Das MKDK Logo auf den CDs ist so was wie ein vereinigender Regenschirm, was den potentiellen Zuhörern eine Idee geben soll, was ihn erwartet (obwohl MKDK neben Fusion und Free Jazz auch akustische Experimente, Klangkunst, falschen Cowboy Rock und so weiter veröffentlicht).
Was den finanziellen Aspekt angeht, veröffentlicht jeder Musiker und jede Band das eigene Material selbständig. Gut, ein wichtiger Bonus ist die Möglichkeit, mit dem historischen Equipment des "MKDK Studios" aufzunehmen, was aktuell der Proberaum von BF im mittelalterlichen Keller von Kanuti Gilds Tanztheater ist, mit Heikki Tikas von BF als Soundingenieur."

Ragazzi: "Ihr habt ein Album mit 9 Songs gemacht. Habt ihr weiteres Material für eine zweite CD? Wie klingen diese Songs - wenn sie existieren? Gibt es eine Chance, sie für Publikum zu veröffentlichen?"

Phlox: "Ja, die nächste [CD, die Red.] kommt bald raus. Der Aufnahmeprozess ist fast abgeschlossen, mixen dauert bis nach dem Sommer. Im Großen und Ganzen ist der Sound in der gleichen Art geblieben, der Hauptunterschied ist, dass das meiste Material dieses Mal von unserem Schlagzeuger Madis Zilmer geschrieben wurde, der definitiv seine eigene Art hat, Dinge zu tun."

Ragazzi: "Habt ihr Fans? Wie sehen die Reaktionen zu "rebimine + voltimine" in Estland und weltweit aus?"

Phlox: "Wir haben eine überraschende Menge Reviews von überall auf der Welt und fast alle sind mehr als unterstützend. In Estland ist die allgemeine Situation zudem sehr gut, vor allem mit dem erneuerten Interesse an dieser Art Musik - aktuell hat das einen Punkt erreicht, der zulässt, das wir auf einer separaten "Prog Stage" auf einem städtischen Indie Festival mit einer zahllosen Horde von Teenagern im Publikum spielen. Das wäre ein paar Jahre früher nicht möglich gewesen."

Ragazzi: "Gibt es die reelle Chance, euch außerhalb Estlands live im Konzert zu sehen, möglicherweise in Deutschland?"

Phlox: "Logo, wenn jemand genug Energie hat, das zu organisieren! Momentan wird das, mit dem wir Deutschland am nächsten kommen, Frankreich sein, wo wir einige kleinere Touren spielen. Aber wir kommen jedes Mal über den Berliner Flughafen…"

Ragazzi: "Wie sehen eure nächsten Zukunftspläne aus?"

Phlox: "Wir werden unser viertes [!!!, d. Red.] Album veröffentlichen (unsere ersten beiden bescheidenen Winzlinge "Fusion" und "Piima" mitgezählt). Konzerte geben, Herumreisen, höchstwahrscheinlich. Dann komponieren wir hoffentlich weiter und nehmen die 5. auf."


VM




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