Interview mit Graeme Koehne im März 2006

Der australische Musikprofessor und Komponist Graeme Koehne verkörpert meines Erachtens „best of both worlds“, wenn man das Universum der Musik in die beiden Klangwelten „U“ und „E“ einteilen möchte - er bildet quasi die perfekte Schnittmenge, ist dabei aber alles andere als durchschnittlich, sondern weiß ein ums andere Mal zu überraschen. Dies wird wohl auch künftig so bleiben, denn möglicherweise steht sogar in absehbarer Zeit ein musikalischer Quantensprung bevor…




ragazzi: "Wann und wie kamst du in Kontakt mit Musik und welche Art von Musik war das damals?"
Graeme: "In meiner Familie wurde zwar viel Musik gehört, aber es gab keinerlei Tradition häuslichen Musizierens. Meine frühesten musikalischen Erfahrungen sammelte ich durch das Hören von Sakralmusik in unserer Kirchengemeinde und von Popmusik mittels des Radios – Anfang der 1960er Jahre wohlgemerkt. Klassische Musik entdeckte ich erst später für mich, als ich anfing Klavier zu spielen. Etwa um dieselbe Zeit gab es ein kurze Phase, in der Pop-Arrangements von populären klassischen Werken in Mode waren und so kam ich durch solche verstümmelten, ästhetisch zweifelhaften Versionen in Berührung mit den symphonischen Kompositionen von Beethoven, Brahms, Mozart usw. Um ehrlich zu sein erschlossen sie mir ein Bewusstsein von Musik außerhalb der kommerziellen Standard-Pop-Musik und weckten meine Neugier für klassische Musik sowie deren Komponisten."
ragazzi: "Welches sind deine Lieblingsmusiker, -komponisten oder –bands?"
Graeme: "Ich bin eine Art musikalischer Allesfresser, weshalb sich meine musikalischen Vorlieben ständig ändern. Allerdings gibt es einige Gestalten, auf die ich immer wieder zurückgreife – bei manchen ist dies offensichtlich, bei anderen weniger. Beethoven wegen seiner Fähigkeit melodische Ideen in erstaunlicher Weise zu entwickeln und (genauso wichtig) wegen seines Sinns für Humor. (Der letztere Aspekt wird von sogenannten seriösen Musikern oft unterschätzt.) Stravinsky ebenso wie Beethoven für sein Talent musikalische Grundgedanken in unerwarteter wie begeisternder Weise zu transformieren. Ravel wegen seiner vorzüglichen handwerklichen Fähigkeiten und seines interessanten Kompositionsansatzes. Raymond Scott und Carl Stalling wegen ihrer Erfindungsgabe; Percy Grainger, weil er es als Australier wagte die Werte der traditionellen klassischen Musik in Frage zu stellen; die Band The Police, vor allem in ihrer Spätphase; selbstverständlich The Beatles; klassisch orientierte Filmkomponisten wie Korngold und Herrmann; Jazzmusiker wie Art Tatum und Stan Kenton; die großartigen Komponisten Cole Porter und George Gershwin; Handwerker der orchestralen Pop-Musik wie Nelson Riddle und Henry Mancinci; John Adams, da er immer wieder aufs Neue den Status quo der Zeitgenössischen Klassischen Musik in Frage stellt; Leonard Bernstein, der es wagte ein „Crossover“-Künstler zu sein, bevor dieser Begriff überhaupt als solcher bestand; Bands wie Coldplay und Radiohead – im Zeitalter der Postmoderne gilt es dies alles und vieles mehr zu entdecken und sich daran zu erfreuen."
ragazzi: "Welches sind deine Einflüsse als Komponist? Hat die Musik der Aborigines irgendeinen Einfluss auf deine Kompositionen?"
Graeme: "Wie du siehst, habe ich vielfältige Einflüsse – früher hatte ich wegen der großen stilistischen Variabilität meiner Musik sogar ein schlechtes Gewissen, doch inzwischen habe ich erkannt, dass dies eine natürliche Folgeerscheinung dessen ist, in einer Zeit zu leben, in der die Musik aller Epochen, aller Kulturkreise und aller Genres so leicht verfügbar ist. Die Musik der australischen Ureinwohner interessiert mich, aber bisher drängte mich nichts dazu, Elemente daraus in meine Musik einfließen zu lassen. Manche australischen Komponisten verwenden Einflüsse der Aborigines-Musik in ihren Werken, um ihr dadurch eine authentische australische Identität zu verleihen – ich bin allerdings der Ansicht, dass man, um als originär australischer Komponist zu gelten, in stilistischer Hinsicht experimentierfreudig, von mentalen Scheuklappen befreit und gänzlich unbelastet von der musikalischen Tradition sowie der Erwartungshaltung des klassisch orientierten (europäischen) Establishments agieren sollte."
ragazzi: "Gab es ein regelrechtes Schlüsselerlebnis für deine Komponistentätigkeit oder entwickelte sich diese „organisch“?"
Graeme: "Als junger Komponist an der Universität wurde ich im Bewusstsein und den Kompositionstechniken der europäischen Moderne eines Stockhausen oder Boulez ausgebildet. Ich erinnere mich nach Abschluss meines Studiums einen Auftritt von Amateurmusikern gesehen zu haben, die Benjamin Brittens „Noyes Fludde“ spielten und war sehr beeindruckt, wie Britten es geschafft hatte interessante Musik zu komponieren, die von Musikern mit unterschiedlichen technischen Fertigkeiten aufgeführt und von Hörern mit verschienenem musikalischem Hintergrund geschätzt werden kann; diese Musik war unverbraucht, besaß Integrität und war einer breiten Hörerschaft zugänglich. Dies war in der Tat ein Schlüsselerlebnis für mich, die Orthodoxie der musikalischen Moderne zu hinterfragen, in der ich ausgebildet worden war."
ragazzi: "Orientierst du dich beim Komponieren an bestimmten Schemata oder überlässt du dich dabei gänzlich deiner Intuition?"
Graeme: "Nach meiner Selbsteinschätzung bin ich ein eher intuitiver Komponist, denn meine Stücke entwickeln sich organisch. Ich mag es, wenn sich eine Komposition während des Schreibens quasi selbst entdeckt und entwerfe gewöhnlich nur kurze Fragmente, die ich dann schrittweise entwickle und montiere, sobald mir das Notenmaterial etwas vertrauter geworden ist und ich dessen Potential besser erkennen kann."
ragazzi: "Gibt es gewisse Rahmenbedingungen, die dem kreativen Prozess des Komponierens bei dir förderlich sind oder bist du in der Lage überall und jederzeit zu komponieren?"
Graeme: "Ich glaube die wichtigste Voraussetzung für jeden kreativen Künstler unserer Tage ist Zeit – Zeit um sich hinreichend den künstlerischen und stilistischen Aspekten seines Werkes widmen zu können und Zeit um sich eingehend mit den technischen Erfordernissen des Kompositionsprozesses zu beschäftigen."
ragazzi: "Welche Instrumente spielst du abgesehen vom Klavier und gibt es ein Instrument, für das du am liebsten komponierst?"
Graeme: "Ich habe Klavier, Orgel und ein wenig Gitarre studiert. Hinsichtlich des Komponierens habe ich kein Lieblingsinstrument, aber ich mag Klarinette, Horn und Geige sehr. Allerdings schreibe ich gerne für die menschliche Stimme."
ragazzi: "Was hältst du von Chamber Rock wie z. B. Univers Zero? Kennst du die Bands After Crying und das Fugato Orchestra?"
Graeme: "Ich bin an allen musikalischen Hybridformen interessiert, in denen sich verschiedene Traditionen und Genres mischen. An den Leuten, die solche Musik komponieren (und spielen), bewundere ich vor allem die Offenheit, die sich bisweilen sogar als regelrechte Abenteuerlust präsentiert. Beispielsweise schätze ich die Arbeit des Absolute Ensembles unter der Leitung von Kristjan Järvi aus genau diesem Grunde. Ich würde gerne mehr über die Bands, die du erwähnt hast, erfahren."
ragazzi: "Besteht deiner Meinung nach ein Unterschied zwischen klassischer und populärer Musik? Was bedeutet der Begriff „Unterhaltung“ für dich?"
Graeme: "Ich denke, man sollte weniger zwischen den von dir genannten Begriffen als viel mehr zwischen Musik kommerzieller Prägung und solcher eher künstlerischer Ausrichtung unterscheiden."
ragazzi: "Nach den Titeln deiner Kompositionen „Elevator Music“ und „Inflight Entertainment“ zu urteilen, scheinst du ein ziemlicher Schelm zu sein. Welchen Stellenwert hat der Humor in deiner Musik und wie würdest du generell die von Frank Zappa gestellte Frage „does humor belong in music“ beantworten?"
Graeme: "Ich halte den Humor für eine wichtige menschliche Grundqualität, der mitunter eine signifikante Rolle innerhalb der Kunst zukommt. Allerdings hat die Zeitgenössische Klassische Musik meines Erachtens größtenteils ihren Sinn für Humor auf dem Altar einer pseudointellektuellen Seriosität geopfert. Ich möchte hier wirklich keine Lanze für den mittlerweile omnipräsenten seichten Klamauk brechen, ich stelle lediglich fest, dass Freude und Witz Qualitäten sind, die als Wertkategorien in der neuen Kunstmusik in Vergessenheit zu geraten drohen bzw. von diffusen Ängsten, sich lächerlich zu machen, überlagert werden. In anderen Kunstformen wie Literatur, Theater oder Tanz scheint mir dieser Prozess nicht (in einem solchen Maße) Raum zu greifen. Ich stelle immer wieder fest, dass viele klassische Musiker eine äußerst altkluge Haltung die Musik betreffend einnehmen."
ragazzi: "Was hältst du eigentlich von Frank Zappa?"
Graeme: "Zappa hat mich schon recht früh interessiert; vor kurzem hatte ich sogar das Vergnügen das bereits erwähnte Absolute Ensemble mit ihrem Dirigenten Kristjan Järvi zu erleben, als es seine Transkriptionen von Zappas Spätwerken spielte."
ragazzi: "Hast du irgendwelche Erfahrungen mit dem therapeutischen Aspekt der Musik sammeln können? (Manche Leiden wie z. B. Tinnitus können mit Hilfe von Klangschalen oder Gongs gelindert werden. Ich selbst hatte vor ca. zwölf Jahren ein erstaunliches Erlebnis mit den Chakra-Gongs der Firma Paiste und bin seither fest davon überzeugt, dass die Musik Wirkungen besitzt, über die wir uns noch nicht (vollständig) im Klaren sind bzw. dieses Wissen verloren haben – zumindest im Westen.) Kennst du die Bücher von Hal Lingerman oder Cyril Scott, die sich mit dem therapeutischen Aspekt der Musik beschäftigen?"
Graeme: "Zwar verfüge ich über keinerlei persönliche Erfahrungen hinsichtlich der Musik-Therapie, doch weiß ich um die einzigartigen Wirkungsweisen der Musik auf die menschliche Physis und Emotionalität."
ragazzi: "Hast du abgesehen von der bei Naxos erschienen CD mit deinen Kompositionen noch weitere Werke veröffentlicht?"
Graeme: "Es gibt einige andere CDs mit meinen Werken; allerdings werden sie nur in Australien durch die Labels ABC Classics und Tall Poppies vertrieben."
ragazzi: "Arbeitest du momentan an neuen Kompositionen?"
Graeme: "Ja und zwar an verschiedenen Musiktheater-Projekten – einem Ballet und einer Oper."
ragazzi: "Welche Pläne hast du für die Zukunft – musikalisch und im Allgemeinen?"
Graeme: "Ich plane weniger Zeit mit Verwaltungskram und mehr mit Komponieren zu verbringen!"

Interview: Frank Bender




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