Helmet of Gnats "High Street" (Ambient Records 2010)

2004 veröffentlichten Helmet of Gnats ihr erstes namensloses Album. Da reichten die tiefsten Wurzeln der Band schon 24 Jahre zurück. In gleicher Besetzung (wie 2004, nicht im Ursprung der Band) legten Chris Fox (g), Matthew Bocchino (keys), Wayne Zito (b) und Mark Conese (dr) 2010 erstaunlich unbemerkt das Follow-Up vor, dessen Qualitäten sich vor dem Erstling kaum verstecken müssen. Enthalten sind ganze 4 Tracks, die zusammen 64:23 Minuten füllen, und keine Komposition ist unter 10 Minuten ausgespielt.
Thomas Kohlruß hat auf den Babyblauen Seiten eine ausführliche Einführung zur Entwicklung der ganz unvergnatzten Insektenhelm-Truppe geschrieben, so dass hier darauf verzichtet werden kann. Nur soviel vielleicht: wenn der erste Ursprung der Band im Jahr 1980 liegt, sind die Bandmitglieder heute um die 50 Jahre alt - und machen einen erfrischen kraftvollen, dynamischen Progressive Jazzrock, der von müdem Alter keine Spur aufweist.
"High Street" ist etwas weniger saftig hart als sein 6 Jahre älterer Vorgänger und setzt doch auf erlesen knackigen Rock. Jazz und Rock halten sich die Waage, nach komplexen Parts wechselt das Arrangement schon mal in flüssig abgehenden Jazz auf Swingrhythmus, was grandios gemacht ist. Wenn die Gitarre darüber soliert und die epische Atmosphäre sich weit entfaltet - Wow! Perfetto!
Fabelhafte Keyboardsounds, vertrackter Rhythmus, schneidend scharfe bis dämmernd melancholische Gitarrensoli - die Band (Chris Fox und Matt Bocchino waren einst auf der Berklee School of Music, Fox stand mit u.a. Eddie Jobson auf der Bühne), technisch geübt und handwerklich versiert in der Lage, komplizierte Musik locker zu spielen, wirkt inspiriert, und steht ganz im Fieber der eigenen Songs.
Das eröffnende "Tsunami" (11:00) beginnt als unterschwelliger Sturm und entwickelt sich reizvoll zwischen melancholischen Passagen, schön komplexen Partien und langer Jazz-Epik. Die Referenzen sind ganz klar: mehr noch als das ursprüngliche Mahavishnu Orchestra stehen Dixie Dregs Pate. "Tin Whiskers" (10:26) präsentiert schwierige Harmoniewechsel auf hippiemäßig schwebendem Rhythmus. Akustisch fängt das Stück an, über der symphonischen Schwebe steigt immer wieder die akustische Gitarre auf, während die Rhythmusfraktion die einzelnen Parts gut zu verbinden und markieren weiß. Schönes Teil!
Das dunkle "Dozer" (12:43) setzt auf disharmonische Flächen. Der balladeske Jazzrock ist sehr melodisch komponiert, die vertrackten Parts gehen trotz ihrer Sperrigkeit locker ineinander auf. So verspielt und anspruchsvoll das Stück wirkt, so angenehm sind seine überraschende Verrücktheit und der Ideenreichtum, was im Laufe der drahtig kraftvollen Arrangements immer wieder Neues einspült. Der Titelsong zuletzt bringt es auf 30:11 Minuten. Unterteilt in 16 Parts, die nur durch die aufgelisteten Zeitangaben auszumachen sind, baut sich ein nicht nur vielschichtiges, sondern ebenso aus zahlreichen (weitaus mehr als 16) Themen gebautes, echt kleines Werk auf, das mal etwas ‚catchy' mit Groove und Eingängigkeit loslegt, mal auf epische Jazzfrakturen, dann auf krachig harten Rock setzt und nicht nur wegen des Sounds der Keyboards an die frühen Siebziger erinnert. Ausgedehnte Solopartien des Keyboarders wie des Gitarristen setzen dem verzwickt vielseitigen Jazzrocker die Krone auf. Da Helmet of Gnats vollständig instrumental arbeiten, wird kein Spielraum an Gesangspartien und damit eher herkömmliche Elemente ‚verschenkt', was jeder Minute anzuhören ist. Die Band wirkt nicht gehetzt und geht ihre Sache gelassen, aber kernig an.
In ganz wenigen Passagen geraten Helmet of Gnats auf "High Street" etwas in ‚Dudel-Fusion'-Gefilde, aber längst nicht, wie dies in der zweiten Hälfte bis Ende der Siebziger des letzten Jahrhunderts schon mal der Fall war. Die Jazz- und Rockanteile haben angenehmer Weise kaum Blues-Flair. Die Konzentration auf wahrhaft erlesenes, kraftvolles, schöngeistiges bis wildes Ideengut weist die Band als besonders, inspiriert wie begabt, aus. Die wissen genau, was wie richtig zu tun, und was zu vermeiden ist.
Jazzrock-Freaks werden ihre große Freude haben und sich in ein zeitlich wie inhaltlich umfangreiches Stück Musik vertiefen können, das den Kram Alltag weit versinken lässt. Und mal sehen, wie es mit Helmet of Gnats weiter geht. 24 Jahre dauerte es, bis Album Nr. 1 fertig war. 6 Jahre darauf folgte dieses feine Stück "High Street". Für Anfang 2013 ist das erste Live-Album angekündigt (keine drei Jahre liegen zwischen Nr. 2 und Nr. 3). Wie lange wird es bis Nr. 4 brauchen?

helmetofgnats.com
ambientrecords.com
VM





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