Gnidrolog "In Spite Of Harry´s Toe-Nail" "Lady Lake" (Beat Goes On Records 2004)

Schon an einer Band wie Gentle Giant kann man ablesen, wie ignorant in den 1970er Jahren das Publikum war. Die besten Komponisten und Arrangeure im Progressive Rock scheiterten kläglich, was finanzielle Erfolge betrifft. Das ging so weit, dass die Band sich ab Mitte der 1970er Jahre selbst vergewaltigte und im Übergang zum Mainstream verreckte. Gnidrolog sind längst nicht so bekannt wie Gentle Giant. Ihre beiden 1972 veröffentlichten Alben sind aber von fast ebenso grandioser Qualität und ebenso wurden diese beiden traumhaften Alben ignoriert, was das vorzeitige Aus für die Band von Ausnahmemusikern bedeutete.
Beide LPs von Gnidrolog (der Name Gnidrolog ist eine Art verdrehtes Anagramm des Nachnamens der Goldring-Zwillingsbrüder) sind ein gutes Beispiel für typisch britischen Progressive Rock. Zum einen sind da die Folkmotive, zum anderen die knochentrockene Komplexität der Stücke, die stets very british klingen, kühl, unnahbar, elegant und faszinierend intelligent. Colin Goldring (lead-voc, g, rec, ten-sax, h, harm), Stewart Goldring (lead-g, voc), Peter Cowling (b, ce) und Nigel Pegrum (perc, fl, ob, p) haben die 6 Songs der 1. LP eingespielt.
Schon das erste Stück der 1. LP "…in spite of Harry's toenail", "Long Live Man Dead", ist pures Hörvergnügen. Die Brachialität der höllisch komplexen Komposition ist erstaunlich und nimmt keine Rücksicht auf harmonische Hörgewohnheiten, das setzt sich im dritten Stück "Snails" ebenso wie im Titeltrack fort. Es bleibt jedoch nicht stetig harsch und ultrakomplex, wild und ungezügelt. Gnidrolog haben einen lyrischen Hang zur klassischen britischen Folklore. Da findet sich plötzlich ein ungemein komischer, hinreißender Humor (Peter), höfischer Tanz (Time and Space) und romantische Phantasie (Who Spoke).
Obwohl die 2. LP "Lady Lake" im selben Jahr eingespielt wurde, zeigt sie die Intention der Band verändert. Plötzlich gehen Gnidrolog symphonischer, harmonischer zu Werke, sind die Songs verzahnter und von klassischerem Charakter. Das tut dem harten Rock keinen großen Abbruch, wenn auch die Flöte, die bereits auf der 1. LP sehr aktiv war, mehr zum Tragen kommt und sanftere Momente herausfordert. Gnidrolog hatten mit John Earle (saxes, fl, lead-voc) und Charlotte Fendrich (p) personelle Unterstützung gefunden. Vielleicht hat das zur Harmonisierung der Musik beigetragen. Folk und Heavy Rock trafen sich nun in einem symphonischen Kontext, der mehr Melancholie und Tiefgang auslöste. Mit John Earle und Colin Goldring waren jetzt zwei Saxophonisten an Bord, die manche Passage gemeinsam bestritten, von der kraftvollen Band perfekt unterfüttert. Dennoch tendieren die Stücke wenig zum Jazz. Immer wieder gibt es viele große und kleine Details in den Songs zu entdecken, die reichhaltigen Motive fanden ein vielschichtiges Arrangement, die Band hatte ungemein Phantasie.
Gnidrolog selbst haben "…in spite of Harry's toenail" vor einigen Jahren mit Live-Bonusmaterial neu veröffentlicht, "Lady Lake" gab es zu Beginn der 1990er Jahre als südkoreanisches Reissue, das längst ausverkauft ist. Bonusmaterial bringt die Beat Goes On - Scheibe nicht mit sich, die beiden LPs füllen die CD mit über 78 Minuten randvoll. Trotzdem ist die Veröffentlichung von großem Interesse. Zum einen, weil "Lady Lake" endlich überhaupt wieder verfügbar gemacht wurde. Zum anderen, weil die Geschichte der Band umfangreich im Booklet zu finden ist, samt etlicher Fotos und den Texten der Songs. 2000 hat die reformierte Gnidrolog ein Album namens "Gnosis" eingespielt, längst nicht in der Qualität dieser beiden LPs, die in den frühen 1970er Jahren keine Nachfolger fanden. Das Label RCA, bei dem Gnidrolog unter Vertrag war, fand David Bowie und Lou Reed Erfolg versprechender, was finanziell sicher keine Fehlentscheidung war, dafür aber die Band ausschaltete. Nigel Pegrum ging zu Steeleye Span, Peter Cowling zur Pat Travers Band. John Earle arbeitete mit Johnny Thunders, The Only Ones und Graham Parker & The Rumour zusammen. Die Goldring-Brüder versuchten sich in den späteren 1970er Jahren im Punk, wo sie es als The Port Dukes mit "Telephone Mastubator" zu einem Hit brachten und gar ein Album veröffentlichten, das mit Progressive Rock und Gnidrolog nichts gemein hat. Album 1 gefällt mir persönlich besser, weil es härter und wilder, abstrakter und avantgardistischer ist. "Lady Lake" ist symphonischer und wird deshalb wohl mehr Gefallen in der Prog Gemeinde finden. Die BGO-Veröffentlichung ist unbedingt zu empfehlen. Schön, dass so ungewöhnliche Musik eine zweite Chance erhält. Absoluter Tipp!

bgo-records.com
VM



Zurück