Fire! Orchestra "Enter" (rune grammofon, 27.06.2014)


Es gibt wohl kaum einen besseren Namen für diese Musik als Fire! Orchestra. Vielleicht noch United Colours of Sodom - doch dieser Name ist bereits vergeben. Der jüngste Streich "Enter" ist in Big Band großer Besetzung eingespielt worden. Mehrere Positionen sind gleich mehrfach besetzt - Schlagzeug, Bass, Gitarren, Keyboards (bzw. Electronics), Gesang - dreimal jeweils. Die Bläserfraktion: 13 Musiker.
"Enter" gliedert sich in vier einzeln anwählbare Parts, ist 54:34 Minuten lang, von denen die ersten drei jeweils weit über 10 Minuten lang sind, der vierte Part um 9 Minuten. Stilistisch lässt sich dieser brachiale Koloss kaum sortieren - Merkmale vielfacher Musikstile kommen hier zusammen. Ein Versuch: Psychedelic Rock, Gospel, Free Big Band, Electronic, Avant Noise. Bewundernswert die stete Intensität, mit der alle Beteiligten sich einbringen.
Allein, was Mariam Wallentin an Gesang leistet, und nicht nur im dritten Part, dessen erste Minuten sie frei und (fast) allein mit Stimme improvisiert, ist wahnsinnig - und ebenso beeindruckend. Die Rockparts sind laut, harsch und krass, hier verhallt, dort deftig rockend, düstere Mellotronkaskaden dröhnen durch esoterisch verhangene Parts, die Rhythmusabteilung ackert vital, kernig und trotz aller Komplexität und technischer Differenzierung bodenständig und fett, die Bläser stürmen unisono oder sich umspielend - die so zahlreichen wie unterschiedlichen Passagen und Themen sind enorm emotional und in ihrer lüsternen Stille (im Gospelgesang), die bebend rockt, sehr nahegehend.
Das ist nicht einfach Rock/Jazz/Avantgarde - das Fire! Orchestra bindet diverse extravagante, ausdrucksstarke, krasse und 'abgefahrene' Stilmittel und macht daraus eine Orgie, eine kochende Suppe wildester Musik, die mal lässig rockt und dabei dem Gospelgesang Basis ist, wie keine beste Rockband sonst. Die krass atonalen Passagen könnten aus einem Alptraum stammen, haben eine gewisse Nähe zu den Avantgarde Psychedelic Bands der Endsechziger (etwa Pink Floyd) - und dann sind da die Jazzpartien, die weit ausgearbeitet viele Minuten erstklassig bestimmen, in deren Höhepunkten die Sängerin mit dem extremst improvisierenden Tenorsaxophon um die Wette kreischt - und die Band erstaunlich ruhig bleibt, während das Bläserensemble brachiale Fanfarenkaskaden über den Zuhörer ausschüttet und ihn entweder verjagt oder in hypnotischen Bann zieht.
In Part One ist bereits alles enthalten, die Welt zu verblüffen. Dann starten die 17 Minuten des zweiten Parts mit druckvoll powernden Psychedelic Rock, Simon Ohlsson singt. Die Bläser übernehmen parallel zu seinem Gesang die nervöse Note (Baritonsaxophon = göttlich!). Wie im ersten Part ist die Gesangslinie ungewöhnlich, dabei nicht unnahbar und für Avantgarde gewohnte Hörspezialisten durchaus nachvollziehbar. Über Minuten zieht sich der Bläserwahnsinn auf der Rockbasis wild und atonal dahin, und in allem extremen Krachwahnsinn steckt viel lyrischer Schöngeist - der entdeckt werden will. Nach dreieinhalb Minuten schreit und brüllt Simon zum krass disharmonischen Gebläse und macht den Sound ungemein voll. Währenddessen arbeitet die Rockrhythmusabteilung stoisch am bebend federnden Rhythmusgeflecht. Die Atmosphäre ist gigantisch. Gut, dazu zu tanzen!
Kaum bemerkbar ebbt die Energie leicht ab, als ziehe die Band sich dezent zurück, der Lautstärkepegel geht runter - die Band arbeitet weiter. Bis.
Als die Zeit noch 10:55 Minuten anzeigt, gibt es einen Bruch, elektronische krasse Schnipsel, nur für eine halbe Sekunde, sodann wechselt alles. Pures Chaos! Elektronischer Wahnsinn wie Überspannungstöne, Harsh Noise, Soundgemetzel auf lautestem Niveau, überdrehte Pegel, krasser Soundsturm, brachialer, infernalischer Lärm - als Höhepunkt zu der extrem und extrem pulsierenden Rockmonotonie des ersten Teils wie der Sturm der Elemente, ein Aufbrüllen allen, was Sound ist. So, etwa, wie King Crimson in "Moonchild" - nur in laut, statt in leise. Infernalisch laut.
Trotz der brutalen Wildheit steckt in diesem Chaos als überschießendes Mittel viel musikalischer Inhalt, vielleicht antimusikalischer; nachvollziehbar für Diejenigen, die Extreme mögen.
Schließlich bricht das Chaos ein. Die Bläser nehmen die Ruhe nach dem Sturm auf und fügen ein balladeskes Thema, das wie der verrückteste Kirchenbläserchor weit im skandinavischen Norden klingt, wo die Welt ihren eigenen Tick hat. Ein wenig steckt Albert Ayler im Gen dieser Partie, doch das ist nur die Basis. Der große Bläserchor variiert das Thema, fächert die balladeske Stimmung auf, wird laut und kraftvoll - und bleibt zugleich stetig ruhig. Es muss eine Art Ekstase oder Trance gewesen sein, die sich im Ensemble ausgebreitet haben muss - Drogen braucht diese Band nicht. Sie fabriziert die beste Droge. Die zarte Ambient Brass Noise Passage wird wilder und wilder, die Rhythmuscrew setzt mit Gemetzel ein, Wildheit fährt auf - und doch, in allem Wahnsinn steckt die Ruhe der Überlegung, Nachvollziehbarkeit bleibt erhalten. Wenn dies Jazz ist, Free Jazz, dann auf einem emotionalen Niveau, das im kalten Skandinaviennorden seinesgleichen sucht.
Mats Gustafsson, Tenorsaxophonist und Dirigent des großen Ensembles, der zusammen mit Johan Berthling (electric bass), Andreas Werlin (drums) und Mariam Wallentin (voice) das Werk schrieb, ist ein extremer Solist, dessen krasses Gebläse für furios anarchischen Eindruck sorgt und diesem wilden Konglomerat extrem gut steht. Mats Äleklint (trombone) schrieb die wahnsinnigen Bläserarrangements.
14:40 Minuten lang ist "Enter Part Three". Die ersten Minuten werden von Mariam Wallentins Gesangsimprovisation bestimmt. Das muss gehört werden! Die Dame hat eine enorme Stimmkapazität und weiß eindrucksvoll, ausdrucksstark und hochenergetisch zu 'singen'. Ihr Atmen, Kreischen, Brüllen, Grunzen, Hauchen, Schreien, Hochtonzwitschern - alle diese seltsamen und hinreißenden Techniken sind von ausgefallener Schönheit und großem Eindruck!
Ganz leicht nur zuerst gesellt sich Electronic dezent zur Stimme, wird lauter und expressiver, das Mellotron singt sein Lied dazu, ein leichter Rhythmus findet sich ein, Ketten auf Becken oder ähnliches, und Mariam singt und singt und singt. Danach muss sie wie leer gewesen sein. Nach über 5 Minuten reiner, expressiver Improvisation steigt der Bass mit einem dynamischen Thema ein, das Schlagzeug gesellt sich dazu, Mariam findet zu Gesang, Keyboards spielen Jazzrockläufe - hier könnten Return To Forever Pate gestanden haben, um eine entfernte Parallele anzudeuten.
Doch die Bläser wollen anderes. Mit stetig steigendem Einsatz bricht der Free Big Band Faktor sich Raum, Mariam, Mats Gustafssons Tenorsaxophon, die Unisonobläserfraktion, der bebende Jazzrock-Rhythmus - hervorragend, dass alle Themen lang angelegt sind, ausgedehnt Raum haben, sich dynamisch entfalten können, ihr ureigenes Beben zum Pulsieren und Kochen bringen.
Bevor der Song noch 5 Minuten läuft, fährt die Energie herunter. Leise arbeitet die Band weiter. Mariam improvisiert mit dem Tenorsaxophon, die dezenten Bläser, der stete Rhythmus - wie ein Schlafgebilde, ein wunderbarer, epischer Traum erhebt sich hier die Atmosphäre. Was für eine Kraft, wie enorm der musikalische Ausdruck! Über etwa zwei Minuten bleibt die empathische Dehnung erhalten, dann fahren die Bläser wieder hoch, Stimme und wild auswachsendes Gebläse gehen den letzten Part an, der stoische Rhythmus bebt und bebt. Hochtonzwitschern wie Ziegenmeckern, Bläserkaskaden, deftiger Rock. Dieses Ensemble weiß intensive Musik zu zelebrieren.
Die 8:59 Minuten des letzten Parts sind fast schon sanft im Vergleich. Wieder steigt eine starke Rockbasis auf, Tasten, Bass und Schlagzeug bauen am Fundament, während Mariam und Simon mit ihren Stimmen einsteigen. Sie: Gospel, er: Rock. Die Stimmen arbeiten miteinander, fahren die Szene hoch und die Bläser geben ihren Unisonoeinstand. So klangen einst Chicago zu Beginn der Siebziger, als sie noch Rockmusik machten. Doch Fire! Orchestra gehen weiter: der Gesang wirkt beschwörend, die Stetigkeit der Rockbegleitung gibt dem Thema Ruhe und Kraft, das fette Big Bandgebläse ist weitaus zahmer als zuvor auf diesem anarchischen Werk, schneidende Gitarrenwände - wie vielfach zuvor in den lauten Soundkaskaden - dröhnen im Schwang mit, bis noch einmal alle Energie zurückgenommen wird, das Mellotron eine Lichtung bespielt. Und Mariam wieder einsetzt. Die ganze Band, wie ein wilder, ekstatischer Chor nimmt den Faden auf und alle Energie baut ein letztes Denkmal, die Brotherhood of Breath hört entzückt zu, wie ihre Jünger dieses Album zelebrieren und die einst so entgegen gesetzten und geradezu feindlichen Lager aus extremem Rock und harschem Jazz sind: eins.
Übrigens ist Sten Sandell (Keyboards, Mellotron) Ensemblemitglied. Der Name war mir im Umfeld von Simon Steensland bereits aufgefallen. Die beiden haben ein extraausgefallenes Werk zusammen eingespielt.
Ihr habt schon alles gehört?
Gewiss.
"Enter".

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VM



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