Interview mit Werner Englert (Musikalische Gesamtleitung der Jugend-Musikteams) und Dieter E. Neuhaus (Konzeption, Dramaturgie, Regie)

SWR-Musikprojekt "Der Schrei!" 2008/2009

E-Musik? U-Musik? "Eh U, there are no boundaries in music!"
Kategorien existieren ausschließlich im Kopf eines jeden Kategoristen. Ähnliches mögen sich die Verantwortlichen des Projektes "Der Schrei" gedacht haben, als sie sich mit Feuer daran machten, die oftmals der heutigen verwässerten Lebenswelt in luftige Höhen entrückten Klänge der Altvorderen neu zu erden, indem sie sich ähnlich dem alchimistischen Prinzip "solve et coagula" vornahmen viele Zutaten aus diversen musikalischen Epochen in einen Schmelztiegel zu werfen. Neugier geweckt? Alles weitere soll aus berufenem Munde seinen Weg in das Vorstellungsgebäude des Lesers finden, der sich nach Gutieren dieses Interviews möglicherweise durchaus vorstellen kann, eine der im Sommer 2009 stattfindenden Aufführungen zu besuchen, um seinen Horizont zu erweitern. Dabei bleibt abzuwarten, ob denn tatsächlich die musikalische Quinta Essentia gefunden werden wird, zumindest aber werden die dort zu Gehör gebrachten Klänge den Äther erfüllen.

ragazzi: "Wer ging mit der Idee zu "Der Schrei" schwanger und unter welchen Umständen wurde deren Geburtsschrei ausgestoßen?"

Englert/Neuhaus: "Am Anfang des Projekts steht "Kiwanis" - ein weltweit aktiver Service Club. "Serving the children of the world" ist das Motto seiner vielfältigen Aktivitäten: Kinder und Jugendliche werden sozial und kulturell gefördert. Angeregt von dem Film "Rhythm is it" entstand in Freiburg die Idee, ein Projekt zu initiieren, das von Kiwanis Clubs zwischen Lörrach und Karlsruhe getragen wird. Als Partner konnte sehr bald das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg gewonnen werden. Sein Chefdirigent Sylvain Cambreling übernahm zusammen mit uns beiden die künstlerische Leitung."

ragazzi: "Welches Konzept verbirgt sich hinter "Der Schrei"; soll das Ergebnis Ihrer Arbeit genauso expressiv wie das gleichnamige Bild Edvard Munchs werden?"

Englert/Neuhaus: "Dass etwas seinen besonderen Ausdruck findet, ist ein wesentliches Merkmal jeder künstlerischen Gestaltung. In unserem Fall bieten wir Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren die Möglichkeit und den Raum, sich mit ihren Instrumenten, ihren Stimmen und ihrer Sprache auszudrücken. Ihre Partner sind bedeutende Musikerinnen und Musiker: das SWR Sinfonieorchester und regionale Künstler aus den unterschiedlichen musikalischen Bereichen wie Rock, Pop, Jazz, Hip Hop, Rock, Neue Musik, Klassische Musik… Außergewöhnlich ist auch der regionale Aspekt, den "Kiwanis" eingebracht hat: Dies passiert zwischen Lörrach und Karlsruhe, zugleich u.a. Zuständigkeitsbereich des Orchesters im SWR. Zu Munchs "Schrei": Dieses berühmte Bild gab nicht den Anstoß für die Wahl des Titels unseres Projekts. Unser "Schrei" ist das Ergebnis eines Spielens mit Wörtern. Wir redeten über aufgeschriebene und frei improvisierte Musik. Und in dem Wort "schrei-ben" steckt der "Schrei". Und ein Schrei ist ein Klang und damit ein musikalischer Ausdruck mit beträchtlichen Möglichkeiten: aus Angst, Wut, Schmerz, Lust, Freude, Begeisterung…"

ragazzi:"Welche Voraussetzungen müssen die Teilnehmer erfüllen, um "mitzuschreien"; kann man zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt noch einsteigen?"

Englert/Neuhaus: "Anfang September wurden an den vier Standorten des Projekts, in Karlsruhe, Offenburg, Freiburg und Lörrach insgesamt 18 Musikteams gebildet, die mit ihrer Arbeit begonnen haben."

ragazzi: "Nach welchen Kriterien wurden die Teilnehmer von wem ausgewählt?"

Englert/Neuhaus: "Es gab kein "Casting"; jeder Jugendliche, der sich auf die zeitlichen und organisatorischen Vorgaben einlassen und sich mit seinem Instrument, seiner Stimme ausdrücken kann und will, ist in einem der Musikteams dabei. Sie alle werden ihre persönlichen Fähigkeiten einbringen und weiter entwickeln."

ragazzi: "Wird es möglicherweise eine Fortsetzung von "Der Schrei" geben?"

Englert/Neuhaus: "Unsere ganze Energie und Aufmerksamkeit ist allein auf die Arbeit am Projekt und die Vorbereitung der Aufführungen im kommenden Juni und Juli gerichtet."

ragazzi: "Um das Projekt zur Aufführung zu bringen, müssen gewisse formale Kriterien erfüllt sein, möchte man eine permanente Kollektivimprovisation ausschließen. Nach welchen Prinzipien wird also versucht werden die kreative Energie der Teilnehmer zu kanalisieren oder gar zu fokussieren und wer fungiert dabei als Spiritus rector?"

Englert/Neuhaus: "In drei Phasen, wird ein Werk erarbeitet, für das es zunächst keinerlei musikalische Vorgaben oder gar Festlegungen gibt. Die erste Phase, die jetzt bereits läuft, ist gekennzeichnet durch das gegenseitige Kennenlernen in den Musikteams; entwickelt werden jeweils die verschiedenen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten und Vorlieben. Das gegenseitige Kennenlernen findet seinen Höhepunkt am 12. Dezember im ersten Zusammentreffen aller Musikteams und des SWR Sinfonieorchesters. Während der zweiten Phase bis Anfang März erarbeiten und sammeln alle Beteiligte ihre inhaltlichen und musikalischen Ideen zum Thema "Der Schrei!". Nach Workshops der Jugendlichen mit dem Orchester, in denen diese Ideen ausgetauscht und miteinander ausprobiert werden, folgt in der letzten Phase die Festlegung und Ausarbeitung der einzelnen Beiträge. In der Schlussprobenphase werden sie schließlich zum Ganzen zusammen gefügt und an den verschiedenen Aufführungsorten in Szene gesetzt. Das Projekt ist ein Kommunikationsprojekt; im unmittelbaren Austausch der Ideen und Arbeitsergebnisse der Jugendlichen in den 18 Musikteams, der 19 Teamleiter und des Leitungsteams. In ständiger Abstimmung mit Sylvain Cambreling koordinieren wir beide diesen Prozess."

ragazzi: "Würden Sie gern verhindern, dass sich eventuell bestehende Vorstellungsmuster und Erwartungshaltungen - quasi "der Urschrei" - begrenzend auf den Ideenfluss auswirken?"

Englert/Neuhaus: "Zu verhindern gibt es gar nichts. Die Authentizität ist entscheidend. Und die gilt es zu ermöglichen und zu bewahren. Gerade darin besteht oftmals die Faszination der Gestaltung durch Amateure im Vergleich zu professionellen Künstlern."

ragazzi: "Mittels welcher Methoden soll dem unserem Bewusstsein eigenen strukturierenden Denken ein Schnippchen geschlagen werden?"

Englert/Neuhaus: "Auch "ein Schnippchen" muss nicht "geschlagen werden": "Vorstrukturiertes Denken" ebenso wie "Klischees" sind an sich nichts Negatives sondern erschließen Zugänge. Chaotisches freies, kreatives Denken genauso wie der künstlerische Ausdrucks- und Gestaltungswillen bekommen so zumeist wichtige Impulse. Gerade in unserem Projekt will das scheinbar Banale genauso ernst genommen sein wie die bedeutenden musikalischen Kunstwerke, die z.B. durch das Orchester eingebracht werden können."

ragazzi: "Könnte ergo die Quadratur des Kreises in diesem Kontext lauten: Spontaneität steuern!?"

Englert/Neuhaus: "Die Spontanität gilt es ohne Einschränkungen zuzulassen, das dann entstandene Material mit zu gestalten und zu formen."

ragazzi: "Wie reagieren jugendliche Teilnehmer, die sich bisher jeglicher bewussten Auseinandersetzung mit klassischer Musik verweigerten, auf das am Projekt beteiligte SWR Sinfonieorchester?"

Englert/Neuhaus: "Sie sind dabei, weil sie diese Begegnung wollen: "Das wird spannend!"

ragazzi: "Wird es bei den nächstjährigen Aufführungen auch Raum für Improvisation geben?"

Englert/Neuhaus: "Ein wesentlicher Bestandteil der musikalischen Arbeit in diesem Projekt ist die Improvisation."

ragazzi: "Ist es geplant den Fortgang des Projekts in irgendeiner Form zu dokumentieren?"

Englert/Neuhaus: "Ein SWR-Team von Auszubildenden (Kamera, Schnitt…) unter Leitung der Autorin Ina Held erarbeitet eine Filmdokumentation. Studierende der Hochschule für Grafik-Design und Bildende Kunst Freiburg gestaltet ein Fotodokumentation, die dann von der "Badischen Zeitung", Medienpartner unseres Projekts, herausgegeben werden wird."

ragazzi: "Werden die 2009 anstehenden Aufführungen auf Tonträger - CD oder DVD - gebannt oder ins Internet gestellt werden?"

Englert/Neuhaus: "Es sind auf jeden Fall Mitschnitte geplant."

ragazzi: "Wie gedenken Sie sicherzustellen, dass das vermutlich mit Hilfe von Steuergeldern finanzierte Projekt allen (Jugendlichen) zugute kommt?"

Englert/Neuhaus: "Bis heute ist das Projekt kein direkter Nutznießer von Steuergeldern (vielleicht abgesehen von den Anteilen des SWR und der Orchesterseite). Es ist nach wie vor auf Sponsoren, Spender und Sachsponsoring angewiesen. Aber unabhängig davon war es uns und vor allem den Initiatoren der Kiwanis Clubs, ein großes Anliegen, wirklich alle Jugendlichen zu erreichen.
Dies ist uns auch gelungen: Geistig Behinderte und Preisträger von "Jugend musiziert", Hauptschüler und Studenten, aus Baden Stammende, Immigranten und andere Zugewanderte - ein ganz breites gesellschaftliches Spektrum findet sich in unserem Projekt vereint."

ragazzi: "School Of Rock" ist ein vom Musikalienhandel initiiertes, nicht ganz uneigennütziges Projekt, mit dem man an die Schulen herantrat, um den Schülern das Erlernen von Instrumenten näher zubringen; gedenken Sie ähnliches zu tun?"

Englert/Neuhaus: "Ein anderes Thema, eine andere Zielsetzung. "Der Schrei!" will primär das, was in den Jugendlichen steckt, herausholen und sie nicht - wie in der Schule und vielen anderen pädagogischen Projekten - belehren. In unserem Projekt geht es nicht um das leistungsbezogene Abfragen von Antworten sondern um das kreative Fragenstellen der Jugendlichen. Die herkömmliche Pädagogik wird auf den Kopf gestellt: Im Schulalltag müssen die Schüler Fragen beantworten, die sie oft eigentlich gar nicht haben oder interessieren. Bei uns beantworten die "Lehrenden", unsere Profimusiker, die Fragen der Jugendlichen."

ragazzi: "Wären auch gezielte Fortbildungen von Musiklehrern denkbar, um mit den Schülern ohne Voraussetzungen nach ihrem Prinzip zu musizieren; ist in dieser Hinsicht etwas geplant?"

Englert: "Dies biete ich seit über 20 Jahren bei Lehrer-Fortbildungen im In- und Ausland bereits an. Die Resonanz ist nicht überwältigend, da man lieber mit fertigen Rezepten umgeht, als sich zu befähigen, die Sprache der Musik zu sprechen."

ragazzi: "Schwedens sehr hohes technisches Niveau der dortigen Musiker resultiert aus der mittlerweile leider eingestellten staatlichen Maßnahme, jedem Schüler im Sekundarbereich kostenlos Instrumentalunterricht zu erteilen, wobei das Rockinstrumentarium nicht ausgespart blieb. Ist ein solches Konzept auf Deutschland übertragbar, wo man inzwischen nicht nur in Pädagogikkreisen weiß, welche positiven Auswirkungen das Musizieren auf die gesamte Persönlichkeit(sentwicklung) hat? Bekanntermaßen ist die Jugend ja unsere Zukunft..."

Englert: "Auch das ist ein wichtiges Thema: Ja, es wäre toll, wenn jedes Kind die Tür zur Musik einmal gezeigt bekäme. Aber: Ich habe kein gutes Gefühl, wenn es im Lehrplan als ein Muss verankert wird. Wenn meist fachfremde Lehrer versuchen, nach einem Kochrezept (von Yahama oder Hohner oder von wem auch immer fantastisch und kompetent entwickelt) den jungen Menschen eine Musik näher zu bringen, die in der Regel weder die ihre ist noch dazu beiträgt, die Musik frei zu sprechen und vor allem zu lieben! Ich bin überzeugt, dass dies nur gelingt mit professionellen Künstlern (nicht Grundschullehrern - Ausnahmen bestätigen natürlich auch hier die Regel), die Musik kommunizieren und leben können."

ragazzi: "Den Slogan "Lass raus, was in Dir steckt" kann man auch als Variante der Sozialarbeit mit musikalischen Mitteln auffassen; negative Gefühle anstatt mit Fäusten mit Tönen bzw. Worten auszudrücken und sie in positive umzuwandeln kann zurecht als ein Transmutationsprozess bezeichnet werden. Ist das so beabsichtigt?"

Englert/Neuhaus: "Nein. Bestimmend ist weder eine soziale noch pädagogische Zielsetzung. Unsere Zielsetzung ist die künstlerische Arbeit. Und die beinhaltet natürlich in hohem Maße pädagogisches und soziales Verhalten. Die zahlreichen, vielfältigen Erfahrungen, die jeder von uns beiden in seinen bisherigen Projekten machen konnte, haben erwiesen, was für manchmal unglaubliche und positive Nachwirkungen eine solche Vorgehensweise und Arbeit mit sich bringt."

ragazzi: "Wie können sich Interessierte über den Fortgang von "Der Schrei" informieren?"

Englert/Neuhaus: "Auf unserer Webseite: der-schrei.com"

ragazzi: "Können Kulturschaffende aus anderen (Bundes-)Ländern, die von "Der Schrei" inspiriert werden, sich vertrauensvoll an Sie wenden, wenn sie Tipps bezüglich Planung und Durchführung eines solchen Projekts erhalten möchten?"

Englert/Neuhaus: "Natürlich."

ragazzi: "Ich danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Interview und wünsche Ihnen "viel Lärm umsonst"!"

Frank Bender



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