AltrOck Productions + Fading Records (1. Serie 2012)

Inner Ear Brigade "Rainbro"
Cucamonga "alter huevo"
Locanda delle Fate "The Missing Fireflies"
Musica Ficta "A Child & A Well"

California! Der Sonnenschein-Effekt ist den Avantrockern in Inner Ear Brigade in die Gene gewachsen. So anspruchsvoll die Kompositionen, so komplex die Songs, so viel lockere Lässigkeit, vitale Verrücktheit, stürmische Jugend und heillos fröhliche Energie stecken in den 10 70s-verseuchten Progressive Rock Songs auf der CD. Sängerin Melody (!) Ferris und Saxophonist Ivor Holloway nehmen die Gesangspartien überwiegend unisono, und die verspielt konzentrierte Horde Musiker, die glatt 'ne kleine Bigband voll kriegen würden, baut so locker den jazztriefenden, von lieblich harmonisch bis schräg disharmonisch reichenden, mal Bläserstärkeren, mal härteren, mal fusionesken, mal idyllischeren Sound so versiert und begnadet darum, dass nur zu staunen und aufmerksam hören bleibt. An Überraschungen ist "Rainbro" reich. Das Album kennt keine stilistischen Grenzen, zwar steckt alles, was Old School Jazz Prog sein kann, bis über die Ohren in den spiellüsternen Songs, und aber ebenso elektrischer Jazz aus Canterbury, Filmmusikhaftes, hier mal 'ne Country-Note im dichten Gewebe der elektronisch umfassten Avantprog-Arrangements, Liedhaftes, sanfte Melancholie-Hügel und epische Mellotron-Sinfonien. Dazwischen stecken energische Rhythmusbrüche, und die Fülle der Ideen ist so enorm groß und quasi unüberschau(hör)bar, dass die Suchtfreaks der Frickeljazz-Abteilung im Prog-Gewerbe eine gute Dosis Droge fürs Ohr und Gemüt bekommen. "Rainbro" kann immer wieder gehört werden, mein sich angenehmer Weise mal wieder im alten Zuhause über ein paar Wochen aufhaltender Nachwuchs nahm die CD aufmerksam wahr und meinte, das sei guter Stoff im Sinn der guten alten X-Legged Sally. Was annähernd und mit beiden Augen zugekniffen irgendwie vielleicht stimmt, und genau passt. Das Haus ist wieder leer und öde, schrecklich leise. Bleibt nur, die Stille zu verscheuchen. Die erstaunliche Aggressionsferne der fröhlich-schrägen Songs überrascht mich stets aufs Neue. Kaum zu glauben, dass die Band, wie im Booklet angegeben, aus 10 Musikern besteht. Kopf und Komponist ist Gitarrist und Keyboarder Bill Wolter, der sich wenig in den Vordergrund schiebt. Da sind keine Gitarrensoli, alle verspielten Schrägheiten passieren im Bandinterplay, Alleingänge sind kurz und selten. Frank Zappa selig würde gewiss sehr angetan sein vom reichen Sound der Band (seine Gitarre auspacken und einstöpseln), ihren hinreißenden Ideen, den guten, überraschend guten Kompositionen und überzeugenden Arrangements. Im AltrOck-Katalog, der an großartigen Alben nicht arm ist, setzen Bill Wolter und Inner Ear Brigade sich mit "Rainbro" deutlich durch.

Nicht weniger überraschend und überzeugend, noch deutlicher zappaesk und 70s Jazztrunken sind die instrumentalen Mätzchen der Argentinier Cucamonga. Argentinien hatte schon in den 70er Jahren eine sehr interessante und vielfältige Progressive Rock Szene. Doch was die verflixt retrospektiven Cucamonga hier machen, war selten noch da. Wie Inner Ear Brigade setzt die Rhythmusabteilung auf edle Gehölze, Mallets - Vibraphone und Marimba, Glockenspiel und weitere Perkussion neben dem dauerhyperaktiven, frakturbeseelten Schlagzeug von Julián Macedo. Bruno Rosado (ts, ss), Mauricio Bernal (p, mar, acc, perc), Oscar "Frodo" Peralta (g) und Adriano Demartini (b, funny voices) machen die grandiose Band voll, die erlesene Einflüsse aus den alten Hochtagen des Progressive Rock in eigenständigen Kompositionen durchfluten lässt. Neben Zappa ist dies vor allem Hermeto Pascoal, weniger europäischer als eher amerikanischer Jazzrock, fetter Progressive Rock, der Hardrock liebt, diesen aber avantgardistisch mimt, Neutönendes aus dem "ernsten" Bereich; mediterrane Warmluft umkreist die Komplexseligkeit des Jazz-Jazzrock, in den Kompositionen steckt europäische Strenge, die indes vital und energisch mit überschießender Spiellust lebhaft gemacht wird. Mehr als einmal sind starke Reminiszenzen an das einzige und selbstbetitelte Album von Hermann Szobel zu hören (das es trotz seiner enormen Qualität immer noch nicht auf CD gebracht hat [April 2012]), weniger streng und druckvoll, verspielter und lüsterner, mit zahllosen Zirkusclownerien und Holterdipolter-Überschlägen der grandiosen Rhythmusabteilung, die mal frankophil, mal wie im dynamischen Jazzrock Chiles oder: Zentrum: Frank Zappa klingt. Nix indes ist geklaut, die Chose ist eigenständig und voll überzeugend. Der Jazz-Anteil ist sehr hoch, der Spaßfaktor auch, immer wieder geben sich clowneske Auftritte die Ehre und bringen Farbe ins vitale Spiel. So komplex die Musik, so wenige Hürden oder anstrengende Partien sind zu überstehen (na gut, einige gibt es doch!). Glücklicher Weise ist die Gesangsabteilung unbesetzt, bis auf einige "funny voices" und etwas emotionales Geschrei in kreischenden Passagen sind alle Klänge instrumental. So geht nichts an Refrains und Strophen verloren, alle musikalische Idee meint es verrückt ernst. Leider nur wohl wird Cucamonga kaum über Progressive Rock und Jazz-Grenzen hinaus fremde Genrehörer erreichen, weil diese Angst vor Anspruch und Komplexität stetig präsent ist, potentielle Hörer befürchten, zuhören zu müssen, um nachvollziehen zu können. Cucamonga haben das Zeug, Kinder, kleine Kinder für "echte" Musik zu begeistern. Die lachen ständig und fragen, wie die Musiker das machen und hören ganz genau zu. Und sobald die CD ausgespielt ist, machen sie sie wieder an. Vierjährige können das. Einen ganzen Tag lang. Und mehr. Essentiell!

Locanda delle Fate's "the missing fireflies…" ist ein typisches klassisches Progressive Rock Album. 35:05 Minuten lang, 7 Songs, 1977 eingespielt. Fast zu spät schon. Da war die italienische Szene weitgehend abgestorben. Veröffentlicht werden die fast schon zu lustig typischen Symphonic Rock Songs erst 2012, immerhin. Parte A besteht aus vier Studioaufnahmen, deren erste drei noch überhaupt ganz unveröffentlicht sind, während Track 4, "Non chiudere a chiave le stelle" in 3:34 Minuten langer Version auf dem 1977er Debüt "forse le lucciole non si amano più" zu finden ist, hier indes 8:41 und keine Sekunde zu lang. Parte B ist weitaus kürzer, die drei Songs, als "live bonus tracks" gelistet, machen etwas mehr als 13 Minuten voll. Noch einmal der 4. Track der CD, diesmal nur eine Minute lang, sodann eine zweite, ebenfalls kurze Version des die CD eröffnenden "Crescendo", als Opener 8:51 lang, als sechster Track auf der CD 4:31, sowie eine (kürzere) Liveversion des Debütstückes "Vendesi sagezza", das sind die live bonus tracks.
Was auf "The Missing Fireflies…" zu hören ist, hat hochemotional verspielte Romantik, ist stark klassisch symphonisch geprägt, zeigt die süßliche Bombastseligkeit des italienischen Symphonic Rock, vereint Liedhaftes und Konzertantes im klassischen Rockschema mit reichhaltigen Keyboardarrangements, ausgedehnten solistischen Pianopartien, dramatischem, starken Gesang, ungemein beeindruckender Melodie und pompös-schwerem Arrangement, das nicht schwülstig ist, sondern leicht und luftig wie aufgegangener Kuchen. Rock Progressivo Italiano Sammler kommen um die Produktion nicht herum, wer das Genre noch nicht kennt, sei auf bessere Einstiege verwiesen, etwa Banco Del Mutuo Soccorso oder Premiata Forneria Marconi.
Die 4 Studioaufnahmen, erstklassig schöngeistiger Symphonic Rock, sind zusammen über 27 Minuten lang (mancher Klassiker der Szene ist kaum länger), der Klang ist erstklassig. Der deutlich schlechtere, nicht unangenehme Klang der live bonus tracks ist nicht anstrengend, aber gewiss nicht gut zu nennen und weitaus besser als die diversen, äußerst üblen Livealben, die Mellow und Vinyl Magic seit den 90ern auf CD veröffentlicht haben.

Musica Ficta aus Jerusalem, Israel, orientieren sich auf ihrem Debüt "A Child & A Well" am klassischen Progressive Rock, wie die explosive Szene der Frühsiebziger in Großbritannien sie prägte. Die 8 Kompositionen sind sehr eigenständig, doch schnell ist zu erkennen, was Julia Feldman (voc), Dvir Katz (fl), Yury Tulchinsky (key), Udi Horev (g), Avi Cohen-Hillel (b) und Michael Gorodinsky (dr) vereint. Da sind Echos der großen, stilprägenden Bands der alten Szene zu erkennen, zudem europäisch Mittelalterliches und Folkloristisches. Indes sind die Kompositionen ebenfalls von folkloristischen und klassischen israelischen Einflüssen beeinflusst. Instrumental sind die Arrangements sehr reich und ungemein kraftvoll, obschon überwiegend sehr lyrisch und schöngeistig. Akustische Gitarre und Flöte prägen vielfache Motive und Instrumentalpartien. Doch wenn die Band zu krachendem Rock ansetzt, steigt der Energielevel enorm und rasante Komplexpartien fliegen mit irrsinniger Geschwindigkeit sehr dynamisch, hart und energisch aus den Boxen.
Sängerin Julia Feldman hat eine für meinen Geschmack zu sehr liebliche, hohe Stimme. Zudem singt sie sehr viel Text und dominiert entscheidende Minuten der Songs. Die Gesangslinien sind überzeugend, ihre hohe Stimme indes will geliebt werden. Mich persönlich strengt ihre Stimme an, der laut eingemixte, stets im Vordergrund stehende und die Band zur Begleitung degradierende Gesang meint es zu gut, ist zu laut, zentral, ausdauernd, lieblich und glockenrein. Verwandt zu mancher Chanteuse der japanischen Progressive Rock Szene und ebenso stark präsent, zudem mit hebräischen Lyrics, die ich nicht verstehe, nicht zuletzt weil die Band verdrängt wird und jede progressive Rasanz und Verrücktheit erst passiert, wenn der Gesang pausiert, ist mein Genuss der CD deutlich eingeschränkt. Die kraftvolle Dramatik der Band, die Lebhaftigkeit der hart und druckvoll gespielten (bisweilen ausgedehnten) Instrumentalpartien reichen mir persönlich längst aus. Ich würde der Band raten, die Gesangsarrangements zu überdenken oder ganz wegzulassen. Die Songs werden durch den Gesang nicht liedhafter, nicht einfacher zugänglich. Fast scheint es, als boteten die beiden Faktoren, Gesang und Instrumentalmusik, sich gegenseitig aus, wartete der eine Teil, dass der andere sein Ende finde. Trotz der starken Gesangsdominanz ist "A child & a well" (alle Songs haben wie das Album englische Namen) ein starkes Album einer exzellenten Band.

innerearbrigade.com
altrock.it
justforkicks.de
VM



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