Wobbler "Afterglow" (Termo Records, VÖ: 01.04.2009)

Haben Änglagårds einstige Komplexminister aus dem kühl-düsteren Schwedenwald an die Tür der Wobbler-Gemeinschaft im wilden, naturbelassenen Norwegenwald geklopft und den um das offene Feuer mitten der urigen Holzhütte versammelten Musikern vermittelt, was die Fehler des ersten Albums waren und wie sie zukünftiger Musik zu mehr progressiver Symphonie und Komplexität, Schwere und Leichtigkeit, dröhnendem Bombast und empathischer Stille verhelfen können? Kann nicht sein! Die Songs auf dem neuen Album "Afterglow" stammen aus dem Jahr 1999, wurden zwischen Juni 2007 und Oktober 2008 eingespielt, die akustische Gitarre allerdings bereits im Mai 2003 - eine langwierige, verzwickte Sache! Die Änglagårds hätten jeden Jahres jede Woche kommen müssen. Und wer hätte (und hat) da den Überblick behalten?
Zuerst: "Afterglow" ist ein Hammer! Kein Instrument oder Effektgerät wurde benutzt, dass nach 1974 hergestellt wurde, die Einflüsse lesen sich wie Psychotherapie für geschundene Progressive Rock Seelen, und also müssen sie aufgeführt sein und jeder Tastaturanschlag ist ein kleiner Orgasmus: Gentle Giant, PFM (nein: Premiata Forneria Marconi!), frühe Genesis, ELP, King Crimson, Banco, Maxophone, Museo Rosenbach, Van der Graaf Generator, Gryphon, SFF und (die norwegischen) Popol Vuh. Wie gesagt: jeder Tastenanschlag ein kleiner Orgasmus - - -
"Afterglow" ist kurz. Irgendwas über 34 Minuten (he, DAS ist NICHT der Gentle Giant Einfluss!!!), fünf Songs drauf, drei kurze, zwei lange. Die drei kurzen können nicht schlicht ignoriert werden, sind der Fensterkitt zwischen den beiden großen Scheiben. "The Haywain" (0:55) trägt Flöten, mittelalterliche Instrumente, Flair am norwegischen Königshofe anno 1578 auf, als die Tafel brechend voll mit Truthähnen, gebrutzelten Schweinen und wikingermäßig geklauten (äh, importierten) Südfrüchten war. "Interlude" (2:35) ist ein akustisches Gitarrenstück, schön komponiert, die Finger des Gitarristen "kleben" an den Saiten, was diesen hässlichen Nebenton mit sich bringt, das Kratzen wie Fingernagel auf Schultafel, verzerrter Ton, der wie Nadeln ins Ohr piekst - dennoch ist das Stück sehr schön. Zum Schluss der Platte trumpft die satt gewordene norwegische Königsgesellschaft mit Tänzen und Clownerien auf, Gryphon haben sich ins 16. wie ins 21. Jahrhundert gebeamt (danke, Scottie), anmutig und dekadent, das harmonische Stück, besonders toll: die Harmonie zwischen Flöten und Krummhorn, elektrischen Keyboards und sattem Basssound, dazu die plötzliche Orgel mit wakeman'scher Synthesizer-Begleitung.
"Imperial Winter White" (15:02) als zweiter Track auf der CD trägt alles auf, was das Herz des hingebungsvoll seinen Sound liebenden Progressive Rockers nur begehren kann: deftige Komplexe, mordsschweren Bombast, fetten Rock, symphonischen Breitseitensound, sanfte Melancholien, düstere Abgründe, schwere Mellotron-Lyrik, exakte, vertrackte Rhythmen, unendlichen Abwechslungsreichtum, grandiose Harmonien und verflixt perfekte und einzigartig überzeugende Partien, die zwischen den verschiedenen Motiven sitzen und die eine Tonart mit ihrem Rhythmus in die folgende mit anderem Rhythmus führen: Jungs, ihr seid, ja, gut. Doch.
"In Taberna" an vierter Stelle auf der CD (die Songs: kurz, lang, kurz, lang, kurz, sollte da ein mythisches Rätsel aufgeführt sein? Fahren wir Straßenbahn? Liegt in der Erde ein böser Schatz von Nazi-Außerirdischen? Sind die grauen Zellen rosarot?) geht über 13:10 Minuten noch einmal die Vertracktheitsskala ganz nach oben: Witz paart sich mit Düsternis, schelmisches Schwelgen duelliert sich mit verrückt-überraschenden Themenwechseln: alles da, perfetto ausgebaut!
Es gibt gute Platten. Und es gibt bessere. Bessere als die guten. This one ist weit oben angesiedelt. Ich habe nur ein Problem: nicht mit der CD-Länge, die ist OK. Wenn die Platte an ihrem Ende ist, fange ich vorne wieder an. Ich frage mich, wann Wobbler, die Angelhaken für Raubfische, mit neuem Material rausrücken!?!
He, kein Stress, Jungs, ist cool, eure Platte, und es gibt sogar, seufz, Vibraphon, es gibt einen Gott, er hört zu, manchmal, diesmal, hier.
Erfrischend, das Album. Da wird mir wieder bewusst, was möglich ist im Symphonic Progressive Rock (und nicht: Prog), wie komplex es zugehen kann, wie dramatisch und düster, folkig, wie eigenständig, und beispielgebend.
Wie dachte ich zuerst: Änglagård haben sich in Wobbler umbenannt und ein neues Album herausgebracht, weil sie Spaß am Witz hatten, ihre Fans zu übertölpeln. Alles Quatsch! Genesis haben sich reformiert, nachdem sie aus dem Jungbrunnen, der 1974-mäßig über sie gekommen ist, rausgekrabbelt sind und die jugendlichen King Crimson mit ELP, PFM und Popopl Vuh (die norwegischen, gelle) auf der Straße rauchen sahen. Shit! Gleich 'ne Band gründen. Und was spielen? Die feinste, edelste und grandioseste Art Symphonic Rock.
Hab' ich untertrieben? Hab' ich's getan?

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