Vinko Globokar "Der Engel der Geschichte" (col legno 2008)

Eines der aufregendsten Klangabenteuer, zu dem ich mich jemals aufmachte, begann, als ich die Folie dieser Doppel-SACD auf machte; das Werk "Der Engel der Geschichte", das als akustisches Tryptichon angelegt ist, mag Klangästheten verstören, was von Vinko Globokar als kompositorischer Kollateralschaden vermutlich bewußt in Betracht gezogen wurde. Unter dem Dirigat von Fabrice Bollon und Martyn Brabbins, die jeweils eine Orchestergruppe durch die klanglichen Untiefen lotsen, entsteht im ersten, mit "Zerfall" betitelten Teil der Eindruck von Auflösung, der durch folkloristische Gesangsfragmente aus dem ehemaligen Jugoslawien (Serbien, Kroatien, Slowenien, Bosnien, Mazedonien und dem Kosovo) und Tonbandeinspielungen unterstützt wird. Die Percussionabteilung versteht es hervorragend in stetigem Wechsel militärische Uniformität und desintegrative Momente entstehen zu lassen, die ein ungeheure Reibungsenergie erzeugen. Bläser und Streicher arbeiten häufig mit Clustern und (a)tonalen Sprüngen, wobei in der zerklüfteten Klanglandschaft wieder und wieder kurze lyrische Passagen auszumachen sind, denen allerdings schon bald durch kakophonen Artilleriebeschuss der Gar aus gemacht wird. Der nach dem Namen des römischen Kriegsgottes benannte zweite Teil thematisiert wiederum einen stetigen Kontrast aus Ordnung und zerstörerischem Chaos und bezieht sich dabei konkret auf die kriegerischen Auseinandersetzungen, die zum Ende Jugoslawiens führten. Besonders eindrucksvoll gestaltet sich dabei die live-elektronische Verfremdung der zweiten Orchestergruppe. Die Frequenz der Frakturen nimmt zu und formt sich sogar zu symphonischem Raketenlärm aus, der schnell verstummt, um schon bald erneut zu entstehen. In der Mitte von "Mars" ist das Kampfgetümmel hinter den (Noten-)Linien teilweise kaum zu hören, um dann gegen Ende wieder aufzuflammen. Im dritten Teil schließlich ist von der titelgebenden "Hoffnung" zunächst nicht viel zu vernehmen, doch schält sich diese sukzessive zumindest als Silhouette aus dem orchestralen Schalltrichter, der mit zwei Samplern konkurriert, heraus, allerdings bleibt der Disput zwischen zwischen negativen und positiven Aspekten über die Dauer des gesamten Werkes bestehen, wobei dialogische Elemente, symbolisiert durch einzelne Orchestergruppen zum Tragen kommen. Dieses Stück fordert auch Hörer avantgardistischen "Liedguts", wird aber niemals so abstrakt, dass man es als akustische Folter verstehen könnte, doch seine Intensität ist innerhalb der Neuen Musik ohne gleichen. Wer hoffte das Orchesterstück "Les Otages" firmiere unter dem Begriff der Harmonie, irrt gewaltig, denn hier gibt es ein Schreckensszenario zu hören, das der Pervertierung des kreativen Prinzips klanglichen Ausdruck verleiht; sonorer Horror, gegossen in ein Notengewand, das sich als überaus gespenstisch erweist. Dieses Stück könnte man quasi als musikalischen Exorzismus bezeichnen - in völliger Dunkelheit mit Kopfhörer gelauscht, dürfte es kein wünschenswertes Erlebnis für ängstliche Menschen darstellen. (Platon hätte solche Musik strengstens verboten, was Globokars Werk zusätzlichen Reiz verleiht.) Ich bin tief bewegt!

col-legno.com
Frank Bender



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