The Nerve Institute "Fictions" (AltrOck Productions 2015)


Gleich der Auftakt "The Confidence-Man" verblüfft. Im symphonisch schrägen Arrangement steckt ein Kinderlied, dessen Strophen so leicht und hochmelodisch sind, dass der Song fast nicht zu glauben ist. Instrumental ist "Fictions" ebenso schräg, eigenwillig und hochkomplex wie das 2011er "Architects of Flesh-Density" aufgebaut. The Nerve Institute aka Michael S. Judge spielt auf seinem zweiten Album auf AltrOck zwar etwas mit aktuelleren, modernen Sounds, so sind dem symphonischen Gewebe in die avantgardistische DNA dezente Alternative Sounds eingepflanzt worden. In "City of Narrows" scheint gar das durchzuscheinen, was einst U2 ausmachte, ins ‚Progressive' übersetzt. Es geht etwas straighter zur Sache. Indes ist die Komplexität des Albums hoch angesetzt, so dass Avant Prog und Jazz Prog Jünger sich dieser instrumentalen Berserker-Arbeit "Fictions" durchaus vergewissern können.
Die Gesangsarrangements sind relativ einfach nachvollziehbar, die etwas leidende, sanfte und leicht ins Off gemixte Stimme trägt die hochmelodischen Gesangslinien (deren Text nicht auf dem Digipack zu finden sind) sehr angenehm. Ist der Gesang ‚absolviert', explodiert das Arrangement, wird ungemein reich und in aller schrägen, eigenwilligen Komposition hochmelodisch, krass extravagant und von ausgezeichnet technischem Schlagzeugspiel großartig durchfedert. Einiges erinnert an Thinking Plague, an Gentle Giant, an den Kosmos von Frank Zappa. Da ist Jazzrock, partiell mit Canterbury-Touch, modern Popproggiges, Folkiges, Worldmusic-Artiges, rau Avantrockiges - manches Intro wirkt erst etwas kühl und fad, doch die Songs kriegen das hin. So etwa im ersten Longtrack "Knives of Summer", die ersten 20 Sekunden - was wird das? Doch über kurz Avantpoppiges führt der Track mit Yes-Keyboards und Hardrock-Gitarren ins Hochsymphonische, während das ‚Stimmchen' hell und sanft singt. Dabei aber nicht in die Leichtigkeit von New Artrock verfällt, oder diese Spielart nur streift. Wenn auch Leichtes ins Schwere gewebt wurde, so ist doch die besondere und besonders gut komponierte instrumentale Komplexität Mittelpunkt allen Geschehens. Handwerklich technisch ist dies sehr dynamisch und lebhaft eingespielt und gut aufgenommen worden. Und gut: die modernen, leichteren Anteile kommen immer wieder vor. Jedoch: sie stänkern, ohne zu zerstören. Vermutlich ist der innere Kampf in Michael S. Judge ausgebrochen, der ambitioniert avantgardistische RIO-Komposition will, gleichzeitig aber ein (kleines) Faible für eingängigere Prog-Stilistika entwickelt hat.
Der Multiinstrumentalist Judge komponierte und spielte alles selbständig ein, nahm alles selbst auf, könnte sich also fast als autarken Musiker bezeichnen. Fast, denn White Willows Jacob Holm Lupo ist in zwei Songs als Gast (g, keys) zu hören, an einem schrieb er mit. Und ist da ein wenig "Ignis Fatuus" zu hören? Nein. Doch ist gut zu hören, dass Jacob Holm Lupo und Michael S. Judge aktuell ähnlichen Strömungen und Einflüssen ausgesetzt sind und diese Einflüsse zulassen.
"Fictions" wirkt trotz seiner großartig sperrigen Instrumentalparts sehr intim und zugänglich. Ist das Album beim ersten Anhören noch etwas ‚kalt', so öffnen sich alsbald die Moleküle und der prächtige Avant Prog wird zum Erlebnis. Dem Vorgänger "Architects of Flesh-Density" bleibt nichts nachzutrauern, er ist und er bleibt. Diese großartige kleine, vielfältige und ideenreiche, 65:10 Minuten laufende Schwester (mit besserem Schlagzeug-Sound) ist die erste Ergänzung. Und wer weiß, wie Michael Judge seine musikalische Story weiterwebt?
Meine Empfehlung!

altrock.it
VM



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