The Blue Ship "The Executioner's Lover" (AltrOck 2014)


Zum Ende des Jahres 2014 legt AltrOck zwei Produktionen auf, die mit ausgefallenem Gesang Profil versprechen. Neben den Russen Vezhlivy otkaz ist dies The Blue Ship, die Band des Komponisten, Sängers, Gitarristen und Pianisten Paul Napier.
2013 von Paul Napier digital angeboten, legt AltrOck die Produktion nun auf CD auf, und das ist nur zu begrüßen. Zwei CDs mit zwei verschiedenen Programmen sind im Digipack zu finden. CD1 ist 66:52 Minuten lang (nach Angabe meines CD-Players).
Ähnlich wie Jochen Rindfrey auf den Babyblauen Seiten möchte ich den musikalischen Stil der Produktion als Varieté- oder Kaffeehausmusik beschreiben, dem ein deutlicher Schuss Avantprog angetan wurde, der bis in Thinking Plague-Gefilde reichen kann. Überwiegend akustisch ausgeführt sind (instrumentale, nicht sangestechnische) Einflüsse des klassischen Liedes zu hören, ebenso Folklore, als würden Poems For Layla ins avantgardistische Feld übertreten. Die Rockelemente sind gering ausgeprägt, wenn sie zu hören sind, stecken sie wie kurze kleine Komplexmonsterchen zwischen den bombastisch epischen Varietéhaus-Strecken, die von der Violine betreut werden. Die Violine wird durch weitere akustische Streicher, Bass und Piano verstärkt, so dass der Eindruck der Kaffeehausmusik verstärkt wird. Doch wer im Kaffeehaus diese ausdrucksstarke - und durchaus enorm laute - Musik hört, wird nach dem Wirt fragen und sich beschweren, dass er seine Zeitungslektüre nicht versteht, weil die Kapelle, besonders der Sänger, verrückt geworden ist.
Paul Napier hat nicht nur Stimme, er weiß sie mit Impetus und Verve einzusetzen. Schwelgerisch und ausdrucksstark wirft er die Texte in den Raum (im Booklet nicht abgedruckt) und lässt sich durch die Streicher hochmelodisch bis zur Karikatur konservativer Musik begleiten. Die Zuwendung zu stilistischen Mitteln historischer folkloristischer und akustischer Musik ist ein fabelhafter Trick, seine Kompositionen effektiv einzusetzen. SO klang progressive Rockmusik bislang noch nicht. Wie ein Gockel steht die Stimme des Sängers im emotional hochschwingenden instrumentalen Raum, der enorm kraftvoll aufgebaut ist, mit basslastiger Pianoarbeit, donnerndem (indes dezenten) Schlagzeug auftritt, die Geigen jubilieren lässt und schwungvoll sowie elegant in radikale Weite stiefeln lässt. Das ist nicht nur passabel, sondern außerordentlich eindrucksvoll. Alles andere als konservativ, dabei von einer Fröhlichkeit und überschießenden Energie und Spielfreude geprägt, mit zahlreichen Muster aus der klassischen Musik ausgestattet, rasen die verrückten Songs voran, als müssten sie einen Krieg im Sturm nehmen.
Wer indes Musik, die von stürmischer Emotionalität angetrieben, durchaus starke humoristische und zudem fröhliche Elemente produziert, abgeneigt ist, wird dem wüsten Treiben kaum folgen wollen. Mir indes ist die Musik wie auf den Leib geschrieben, der anarchistische Witz in dieser zügellosen Form trifft meinen Sinn für Humor wie den für instrumentale Komposition ins Herz. Wie wunderbar, dass die Songs weit über eine Stunde ausmachen. Die Unterhaltung hat therapeutischen Wert!
CD2: 19:14 Minuten. Das vierteilige "The Executioner's Lover" ist gewiss mehr als das, was der Professor für klassische Komposition an der Hochschule als das bezeichnet, was Rockmusiker als klassische Komposition betreiben. Durchaus wirksam und eindrucksvoll, geht der Ausdruck weit an mir vorbei. Der für mich persönlich kaum nachvollziehbare Wechsel aus romantischen, dramatischen und neumusikalischen Kompositionsmethoden will mehr, als er kann. Hier überwiegt das romantische Detail, und wenn es in dramatische Intention bricht, ist dies nachvollziehbar und schlüssig. Doch wenn das soeben noch harmonisch beschwingte Thema in ein abstrakt neumusikalisches fällt und von einer Welt in die andere tritt, als lägen beide Räume offen und weit nebeneinander, so bricht nicht nur das Handwerk, sondern auch der Ausdruck. In getrennter Intention, hier romantische Musik, dort Neue Musik, kann Paul Napier Inspiration und handwerkliche Qualität beweisen. Doch verquickt ergibt dies nur Murks, den die romantischen Klassiker ebenso wenig verstehen könnten wie György Ligeti. Als Scherz kann das Stück auch nicht verstanden werden, dazu ist es zu streng und jedem humoristischen Ton abgeneigt. Indes, als Bonus zur ersten CD OK. So ist nach dem emotionalen Höhenflug die nüchterne Landung garantiert.

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VM



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