Sylvan - "Posthumous Silence" (Point Music / Progrock Records 2006)

Konzeptalben könnte man als die Königsdisziplin des progressive Rock bezeichnen. Es gibt nicht nur eine Komposition, sondern auch eine dazugehörige Geschichte, vielleicht sogar noch ein passendes Artwork... ein Gesamtkunstwerk eben!

Das fünfte Studioalbum von Sylvan ist ein Konzeptalbum. Die Hamburger glänzten schon immer mit langen, epischen Songs und so beschlossen sie dieses Mal die Linie von Epen wie "Encounters", "Artificial Paradise" oder "Given - Used - Forgotten" zu einem kompletten Album in diesem Stil weiterzuführen. Die Besetzung ist seit dem letzten Album "X-Rayed" unverändert: Marco Glühmann (vocals), Matthias Harder ( drums, loop programming, sound effects), Sebastian Harnack (bass), Kay Söhl ( guitar) und Volker Söhl (keyboards). Unterstützt werden die Hamburger von Stefanie Richter (cello), Guido Bungenstock (additional guitar) und dem Chor vom Ensemble Vokalkolorit.

Die elegische, atmosphärische, ausladende, verspielte, dramatische Seite der Band dominiert dieses Album. Damit einher geht eine stärkere Betonung der Tasten, denn es gilt viele Stimmungen auszuloten, viele Gefühle zu untermalen und viel Raum zu füllen. Sowas kann schnell schiefgehen, aber Volker Söhl nutzt den Raum den er bekommt mit durchaus filigraner Feinarbeit. Alles mit Keyboard-Kitsch zuzukleistern ist seine Sache (glücklicherweise) nicht und damit erstickt das Album auch nicht am Tasten-Overkill.

Ausserdem treffen die Keyboards nicht nur auf elegische, oft todtraurige Gitarren, sondern auch auf deren heftig riffende Bruderschaft (hier ja im wahrsten Sinne des Wortes ;-)), die in einigen Songs deutliche Ausrufezeichen in Richtung (fast) progmetallische Anklänge setzen. In dieser Ausprägung hat man das auf früheren Sylvan-Alben sicherlich nicht gehört. Diese Gegensätze sorgen für Dynamik und machen einen Großteil der Faszination des Albums aus. Ergänzend dazu setzt Gastmusikerin Stefanie Richter mit gefühlvollen, traurigen Cellotönen immer wieder Gänsehaut-Akzente.

Die Farbigkeit und der Tiefgang der Arrangements wird darüberhinaus noch durch die profunde Bassarbeit und das solide Schlagzeug unterstrichen, die ein mehr als stabiles Rhythmusfundament legen. Darüberhinaus kann gerade der Bass mit einigen ungewöhnlichen Linien überraschen.

Sylvan kreieren wieder moderne, sinfonische Rockmusik, die sich auf den Flügeln des New Artrock mit einigen heftigen Ausflügen direkt in die Herzen der Hörer bohrt. Die Wurzeln der Band im Neoprog werden mit einigen Bombaststellen nicht verleugnet, aber es klingt niemals hohl oder platt. Die modernen Elemente, die den Vorgänger "X-Rayed" erweiterten, werden fortgeführt, was insbesondere für die Melodieführung der Gitarre gilt. Sprachsamples und ähnliche Einlagen stärken den Konzeptcharakter.

Aber das Ganze ist weit mehr als die Summe seiner Teile, dies gilt für dieses Album ganz besonders. Es sind nicht die musikalischen Einzelleistungen, die letztlich den Wert von "Posthumous Silence" bestimmen. Wir erleben die Geschichte eines Vaters, welcher dem Leben seiner verstorbenen Tochter in ihrem Tagebuch nachforscht. Zu Lebzeiten war ihm seine Tochter fremd geworden und er hatte niemals ihre Nöte und Ängste verstanden. Nöte und Ängste, die sie vielleicht in den Tod trieben? Dies bleibt offen. Er will nun aber endlich verstehen... die Verzweiflung über die späten, zu späten, Erkenntnisse ist spürbar, wie auch die Leiden und die Zerrissenheit der Tochter. Die Emotionalität des Albums ist einfach ergreifend. Die Gedanken des Vaters sind in kurzen Zwischenspielen dargestellt, während die langen Stücke die Auszüge aus dem Tagebuch der Tochter wiedergeben.

Trotz allem macht es einem "Posthumous Silence" nicht einfach. So ein sperriger Brocken Musik und Text will natürlich erst einmal erobert werden. Aber nach einigen Durchläufen öffnen sich Ohren und Herz für dieses Gesamtwerk.

Sylvan gelingen dabei auf "Posthumous Silence" ein paar ihrer besten Kompositionen, die nur nicht so direkt ins Ohr stechen, weil sie sich perfekt ins das Albumkonzept einfügen. "In Chains", "Forgotten Virtue", "Questions" und "Answer To Life" sind ganz starke Einzeltitel, die auch für sich bestehen könnten. Gerade das mitreißend-dramatische "In Chains" und das melodische "Answer To Life" fordern geradezu die Repeat-Taste heraus. "Answer To Life" besticht insbesondere durch einen Ohrwurm-Refrain, der beweist, dass man sowas auch völlig unpeinlich 'rüberbringen kann. Aber wie gesagt: Das Ganze zählt hier, so wirkte der Song "Posthumous Silence", der das Album beschliesst, als er vorab auf dem 'eclipsed'-Sampler erschien, reichlich verloren und deplatziert. Aber hier, an der richtigen Position am Ende des Gesamtkunstwerks, wächst der Song und verbreitet eine Atmosphäre finaler Verzweiflung, aus der aber auch Hoffnung erwächst... Es ist nie zu spät, die Dinge zum besseren zu wenden, für einen Neuanfang. Welch' ein Abschluß!

Wenn man an diesem Werk etwas bemängeln will, dann vielleicht, dass möglicherweise für den einen oder anderen Hörer zuviel mit Atmophäre gespielt wird, dass zuviel Tastenschwelgerei betrieben wird. Marco Glühmann bringt wieder eine exzellente Gesangsleistung und lotet diverse Facetten seiner Stimme virtuos aus. Allerdings wird - für meinen Geschmack -, wie so oft auf Konzeptalben, einfach zuviel gesungen. Hier wäre etwas weniger sicherlich mehr gewesen.

1994, Marillion mit "Brave", 1997, Fates Warning mit "A Pleasant Shade of Gray" und IQ mit "Subterranea" veröffentlichen Meilensteine im Bereich der Konzeptalben... Nun legen Sylvan mit "Posthumous Silence" ihr A Brave Shade of Subterranea vor. In dieser Liga spielt dieses tolle Album, nicht mehr und nicht weniger.

So, und wer nun verzweifelt ist, weil er gerade die kürzeren, knackigen Rocker der Band geliebt hat: Parallel entstand ein zweites Sylvan-Album welches die rockige Seite der Band mit kürzeren Titel fokussiert. Dieses Album, genannt "Presets", soll im Herbst nachgeschoben werden.

sylvan.de
Thomas Kohlruß



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