Siena Root "Different Realities" (transubstans Records, VÖ: 08/2009)

2009. Rockmusik für Fortgeschrittene leidet keinen Mangel an retrospektiv inspirierten Musikern, Bands und CDs. Die Szene blüht wie der Dschungel nach der Regenzeit, es dampft und kocht, duftet und stinkt, das Leben brodelt und pulsiert, Fruchtbarkeit und pure Lust allerorten, zum Verrücktwerden. Die Köpfe der Fans sind voll der Musik, die Realität für Musikfreaks ist ein eigener Kosmos. Da ist Politik ein Gewitter am Horizont, sind die sonstigen Begleiterscheinungen des Lebens nur dazu da, gemeistert und beendet zu werden, um wieder in Musik kriechen zu können, sich ganz darin zu vergraben. Dazu gibt es gute Musik, gute Musikanlagen, Wohnzimmer und ihre Sessel, Haustürschlüssel und dezent indirektes Licht.
Und Siena Root. Noch mal: keine Ahnung, wo das alles herkommt, wie die das zusammen schrauben. Woher die Inspiration nehmen, nachdem die Welt schon diese vielen Jahre im Lärm erstickt und alles schon gesagt ist.
Nix da. Nichts ist gesagt. Musik hat kein Ende und wir sind erst am Anfang. "Different Realities", jetzt fällt mir erst der Name der Platte auf, seltsam, wie das Unterbewusstsein funktioniert, hat zwei lange Tracks drauf, die im ersten Fall in vier, im zweiten Fall in sechs anwählbare Tracks untergliedert sind. "We" ist 25:33 Minuten lang, "The Road To Agartha (Raagmala)" 25:27.
"We" ist der härtere Rocker. Da sind Folk-Einsprengsel, akustische Parts mit Flöte, unter der ein Bass sitzt, dass ich weg schmelze. Um die Treffgenauigkeit interessiert lauernder Freaks zu orientieren: Stoner, Hardrock, Prog, Jazzprog, Led Zeppelin, Skandinavien-Melancholie, Folk, Rock, gut komponiert, exzellent gespielt. Ideen hat es zum Heulen und Abwechslung zum Begeistern.
Keyboards, Gitarren, Schlagzeug, Bass, Flöten, die wenigen Gesänge, derb Hartes und sphärisch Verträumtes flechten die Aufmerksamkeit ein und entführen in imaginäre Welten, die einst Pink Floyd schon mal aufmachten. Der Track ist hammerkomplex, nicht ultra im Prog-Sinn, aber in der Eindrucksleidenschaft.
"The Road To Agartha (Raagmala)" beginnt schwer rockend, um sich aber mehr und mehr in psychedelisch-folkige Sphären aufzumachen - nicht, um in seinen 6 Parts nach ausgiebigen Folkpartien wieder dynamisch fett zu rocken. Es gibt indische Folkeinflüsse, die nicht nur zeitmäßig umfangreiche Komposition zeigt immer wieder die Verschmelzung von fernöstlicher und nordeuropäischer Musik, elektrischer und akustischer Klänge. Nicht immer bleibt die Komposition dabei aufregend, im Laufe der Folkpfade verdampft die zuerst glühende Inspiration zu fadem Dahinkriechen, bis es wieder besser wird und die Band den Faden wieder findet. Die Gemeinsamkeit ist die friedliche Philosophie. Europäer, Schnauze voll von "Krise", schwammiger Politik und Beamtenverwaltung, füllen unsere Philosophiephantasien mit der für unser Denken harmonischen Schöngeistigkeit der romantischen Asienferne. Musikalisch drücken Siena Root das exzellent aus. "Different Realities" klingt ungemein inspiriert und tiefsinnig, konzentriert und locker, leicht wie eine Feder und schwer wie nur intensive Musik klingen kann. Die instrumentale Ausführung der Ideenflut ist ein irrsinniger Zauber, fast scheint es, als hätte Hermann Hesse seine Finger im Spiel gehabt.
Siena Root sind keine "Progressiven" der symphonischen Art und ihr neues Album, an dem sie ein ganzes Jahr gearbeitet haben, passt eher ins psychedelische Label. Und doch und aber sollten unbedingt auch die Jünger der Komplexschule ihre Fühler ausstrecken nach diesem Klangerlebnis, das viel romantischen Inhalt und einzigartige Musikkunst bietet, die da nix langweilig ist, sondern lebhaft und überraschungsreich.

transubstans.com
justforkicks.de
VM




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