Romantic Warriors III - Canterbury Tales (A Zeitgeist Media LLC Production 2015)


Als der alte Fernseher der Familie Mantei, mit dem dicken Bauch nach hinten und viel Staub obendrauf, sich mit Dampfen und Zischen in den Ruhestand verabschiedete, 15 Jahre diente er mit Persönlichkeit, Macken und Ausdauer, meinte K., Mother of Children, die Ergotherapeutin und Arbeitsbiene: "schaff nicht so'n großes Teil ran", als es hieß, einen Nachfolger für den Fernseher in die Familie und Wohnung zu bringen.
Der nächste Laden war der Media Markt und darin gab es Fernseher wie Kinoleinwände (gefühlt) und der Fachverkäufer führte mich zu den ‚kleinen' Geräten, nachdem ich vom Wunsch der Gemahlin berichtete. Ja, die Teile waren kleiner. Und doch, als der Lagerarbeiter und ich den Apparat ins Auto hievten, war die Rücksitzbank beinahe zu klein - und das bei der Familienkutsche!
Der Fernseher stand im Wohnzimmer und Frau K sagte: zurück damit, hol einen, wie ich bereits sagte, "kleinen" Fernseher. Aber die Schwerfälligkeit siegte und jetzt glotzt die Familie, wenn sie denn glotzt, ins Wohnzimmerkino. Mittlerweile gefällt es allen sehr gut, wie schick die Dokus da zu sehen sind, die Filme, Krimis und am Rechner zurechtgeschnittenen Uraltvideos mit Babies, die heute über 20 Jahre alt sind.
Ein jeder lobt das scharfe Bild. Und die Dolby-Surround-Anlage samt Blu-ray-Player machen echtes Kinofeeling samt Bombastton und Ohrenzuhalten, wenn es drauf ankommt.
Nun, nach dieser Ouvertüre wisst ihr, das Familie M einen ‚kleinen' Fernseher sein Eigen nennt und nichts verpasst, wenn das flache Dings eingeschaltet wird. Indes, was gibt es im deutschen Fernsehen schon zu gucken?!?
Doch, da sind noch die kulturellen Vorlieben der Familienmitglieder. VM nimmt alles auf, was nach Jazz und Rock riecht, etwa. (Anderes auch, aber das führt hier nicht weiter…)
Und es gibt, wie alle Welt weiß, DVDs und blu-ray Discs.
Kürzlich, nein, da ist schon etwas Zeit ins Land gegangen, erreichte eine Email den Ragazzi-Rechner, die anfragte: "Would you like to review our 3rd film on the Progressive Music Saga? The film is called "Romantic Warriors III - Canterbury Tales", and covers the so called Canterbury Scene."
In der - doch, recht schmalen - Musikfilm-Sammlung VMs sind bereits Teil I und II enthalten. Erfreut über die Anfrage kam mein "Yes", auf das es keine Antwort gab. Dafür die zweite Anfrage mit dem identischen Text und ein zweites "Yes", worauf der Kontakt geknüpft war. Etwas später gelang es der Deutschen Post, die Sendung zuzustellen (hin und wieder bevorzugt es das Unternehmen, Sendungen dieser Art dem Zoll zuzuführen), und es begab sich, dass die Sommerzeit Sonne, Wärme, Licht, Fahrrad und Bewegung mit sich brachte, was die ausführliche Beschäftigung mit kulturellem Hintergrund im Wohn- wie im Musikzimmer vernachlässigte. Drinnen sitzen - das will der tägliche Broterwerb bereits. Die Freizeit fährt Rad und kommt der nahen Küste nahe.
Doch nun, wehe, will der meteorologische Herbst den Sommer verabschieden und legt die entsprechenden Hebel um. Die Sonne geht früher unter, die Wärme schraubt sich ab, das Fahrrad fährt im werdenden Grauen (mit Eigenlicht) und bald wird die tägliche Bewegung auf das Wohnzimmerfahrrad abgewälzt, was Vitamin-D-Mangel prognostiziert, zudem ist Fahrradfahren draußen viel positiver - Körperwärme führt sich ins Äußere ab, während das Fahrradfahren im Wohnzimmer schweißtreibend und klebe-intensiv ist. Aber - da ist das Fernsehgerät, da sind DVDs und blu-ray-Discs und die 5.1 Dolby Anlage (mit seltsamer Persönlichkeit - die zu beschreiben hier zu weit führen würde).
Als Vorgeschmack auf den Herbst gelang es VM, einige Freizeit (2h, solange dauert die Dokumentation) vor dem Fernseher zu verbringen. Um es kurz und gleich zu sagen: "Romantic Warriors III" ist kein lauer Aufguss. Ganz im Gegenteil, es hat den Anschein, als gäbe es keine Teile davor. Von Beginn an spannend, fabelhaft geschnitten, ungemein informativ, mit zahllosen Interviews, Albumcovern, Band und vielfach weiteren Bildern, Videos alter und neuer Herkunft zusammengestellt ist diese in sehr gutem Englisch gesprochene Zusammenstellung ein Wunschtraum des Canterbury-Fans, dessen, was die Kernszene des Progressive Rock ist, das Herz der Komplexität, das Blut der progressiven Musik, die Seele dessen, dem wir alle erlegen sind.
Wie viele Musiker interviewt worden sind! Wie viele alte/junge Menschen zu sehen sind. Und Daevid Allen, RIP, gongt durch den Film, als sei er die Mutter des progressiven Canterbury. Wenn jemand französisch spricht, gibt es englischsprachige Untertitel. Und nein - ich habe längst nicht alles verstanden, was dort gesprochen worden ist. Was nix macht. Bilder, Musik, Videos & Worte ergeben zusammen den richtigen Sinn. Es ist, als sei der Wunschtraum ins Wohnzimmer gekommen. Und Du musst nur zusehen/hören.
Fall jetzt einer die Befürchtung in sich reifen sieht, dass eine solche Dokumentation für eine solche Randgruppe wie dieser Progressive Rock - Gemeinde gewiss nicht professionell/wissenschaftlich/informativ produziert sein kann - streife sie ab, die Befürchtung. Sieh Dir die Doku an. Schmelze dahin. Dies ist absolut professionell!
Ich habe (etwa zum Staubwischen) eine recht umfangreiche CD- und LP-Sammlung, die Canterbury-Szene ist ausführlich darin zu finden. Und doch fand ich Bandnamen und LP-Cover im Film, die ich nie zuvor gesehen, von denen ich noch nichts zuvor gehört hatte. In gerade diesen Augenblicken träumte ich von Stift und Zettel und wusste, dass der Film erneut gesehen werden will. Und wieder. Und noch einmal.
Mittlerweile habe ich die DVD, diese zwei ausführlichen, kurzweiligen, unterhaltsamen, humorvollen und so viele Musiker und Menschen darum präsentierenden Stunden mehrfach genossen, manchmal in Etappen, zumeist in Gänze. Und nichts ist langweilig dabei. Jedes Mal überhöre ich Informationen, übersehe ich Bilder, die in der Flut des Materials, im geschickten, unterhaltsamen und sensationell kurzweiligen Schnitt, im Arrangement des Films untergegangen - und an anderer Stelle wieder aufgetaucht sind.
Kurz: der Film macht Spaß, bringt die ganzen Musiker ins heimische private Wohnzimmer und man kann sich Spiele während des Films ausdenken. Etwa: wie viele Inkarnationen von Soft Machine gab es, wie lange dauerten sie an, wie viele Konzerte gaben sie, wie viele Alben wurden jeweils veröffentlicht und wie hießen sie. Oder: wie viele Compilations zu Soft Machine gibt es, wie viele mehr als Originalalben? Wie viele Livealben, im Nachhinein, von welchen Labels. Und welche Sprache sprechen die Eigner bekannter Labels (etwa Moonjune) im Ursprung? Im Anschluss kann Soft Machine gegen Caravan, Hatfield and the North oder Matching Mole ausgetauscht werden. Usw.
Zudem gibt es erstaunliche und manchmal auch ernüchternde Auskünfte. Da meint etwa Robert Wyatt: ich bin doch kein Museum! (Und das schon 1995) (wobei: schon…).
Adele Schmidt und José Zegarra Holder - THANK YOU for this great work!
Not a third - a unique one.
Absolute Empfehlung für all Jene Progsüchtigen, die schon mal hörten, dass Stormy Six, The Muffins, Univers Zero, Samla Mammas Manna, Supersister und Hoppy Kamiyama nicht zuhause wohnen.
Sondern in Canterbury.

progdocs.com
zeitgeistmedia.tv
VM



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