Raimundo Rodulfo "Mare et Terra" (Musea Records, VÖ: 12/2008)

"Mare et Terra" ist das fünfte Album des venezolanischen Multiinstrumentalisten Raimundo Rodulfo, deren zwei nur als Internet-Veröffentlichungen, "Bootleg"-bezeichnete Livealben zu bekommen sind. Im Alter von 12 Jahren erlernte Raimundo Rodulfo das Spielen der akustischen, zwei Jahre später der elektrischen Gitarre. Zuvor war er im zarten Alter von 7 Jahren der Violine nahe gebracht worden.
Heute unterhält er in Miami, Florida, USA ein kleines Studio. Vor zehn Jahren war Raimundo Rodulfo in Venezuela in einer Organisation engagiert, die Konzerte veranstaltete, unter anderem von Rick Wakeman, After Crying, Flower Kings, Steve Hackett, Camel, PFM und Focus. Mit seiner eigenen Band eröffnete er als Opening Act ein Flower Kings Konzert. Zudem organisierte er im Jahr 2001 das ProgJazz Festival in Barquisimeto, Venezuela neben weiteren akademischen Musikevents.
"Mare et Terra", das dritte Studioalbum, "Dreams" wurde 2000, "The Dreams Concerto" 2002 veröffentlicht, wurde im Jahr 2007 eingespielt und enthält vier lange Tracks, deren jeweils zwei den Themen "Mare" und "Terra" zugeordnet sind. "Náufrago" (36:34) eröffnet die CD LP-lang. Die stilistische und emotionale Vielfalt der Komposition ist enorm und in einem Hördurchlauf gewiss nicht vollständig nachzuvollziehen. 12 Gastmusiker waren, teilweise nur in einzelnen Songs bzw. Passagen an der Einspielung beteiligt, andere, so ein Streichertrio und zwei Bläser (Flöten, Trompete, Flügelhorn), sind wie Keyboarder, Perkussionist und Schlagzeuger in allen Stücken zu hören. Ein langes Flamenco-Akustikgitarrenmotiv eröffnet den auf der CD nicht unterteilten Track, bis die Band einsteigt und klassischen Progressive Rock virtuos spielt. Südamerikanische Folklore, Symphonic Rock in lyrischer südamerikanischer Spielweise, jedoch ohne die bisweilen arg süßlichen Anteile, und deftig jazztriefender Rock gehen in diversen musikalischen Themen, langen instrumentalen Partien und von männlichen und weiblichen Gesangsstimmen getragenen anmutigen Vokalparts auf. Der kompositorische Aufwand findet in der komplexen Musiksprache und künstlerischen Qualität seine Entsprechung. Der lange Song, wenn überhaupt von "Song" noch die Rede sein kann, ist ein illustres Meisterwerk, dessen beste Anteile zuerst die akustischen, äußerst virtuosen Gitarrenparts sind, die nach dem hinreißenden Entree in etlichen Soli und vielschichtigen symphonischen Bandarrangements häufig wiederkehren. Raimundo Rodulfo spielt auf seinem dritten Album alle Gitarren-, Bass- und Mandolinenparts, alle anderen Instrumente sowie die Gesangspartien überließ er seinen Gästen. Strukturell sind die Songs, die nachfolgenden wie der lange Erstling, auf die Gitarre als Fundament und melodischem wie solistischem Instrument aufgebaut. Die lyrischen Streicher und opulenten Keyboardarrangements haben nicht wenig harmonischen und auch solistischen Raum, sind jedoch der Gitarre nachgeordnet.
Das neunminütige "Libertad" ist eine romantische Ballade mit sanften, eingängigen Solo- und Chorgesängen, crimsoneskem Basspart, Flamencogitarre und symphonisch breitbandigem Arrangement. Auch hier ist das virtuose Gitarrenspiel, folkloristisch akustisch und rocktypisch elektrisch, nicht nur technisch exzellent. Ohne die ausgezeichnete Gitarrenarbeit wäre der Song, wäre das ganze Werk fad und mittelmäßig. Doch die Virtuosität, mit der Raimundo Rodulfo seine Instrumente spielt, die melodische Vielfalt und technische Rasanz, die ultraschnelle Spielweise und geradezu witzige Präsenz sind DER Anteil in Rodulfos Musik.
Terra beginnt mit "Blue", einer jazzigen Note, die chaotische Züge trägt, ohne letztlich aber extrem chaotisch zu sein. Die freieste Komposition der CD wirkt zerfasert, ist am wenigsten zugänglich, ohne aber in der Qualität nachzulassen. Auch hier gibt es das exzellente Gitarrenspiel neben schrägen Bläsersätzen, abrupten Rhythmuswechseln und agogischen Instrumentalspitzen. Die elf instrumentalen Minuten haben südamerikanische Leichtigkeit und progressive Komplexität, symphonische Lyrik und jazzige Freakigkeit. Wohl nur aus südamerikanischen Gefilden kann diese Art abgedrehter Schräglage in aller seligen Harmonie kommen.
Zuletzt sind die knappen 20 Minuten von "Thoughts" in zwei etwa gleich lange Parts unterteilt. Wieder betört das erstaunliche und prägnant temporeiche Gitarrenspiel, flitzt die technisch hinreißende Band, die niemals zu akkurat spielt und gern locker mit dem Arrangement umgeht, ohne es zu vermasseln, ganz im Gegenteil, es damit nur noch lebhafter und wirkungsvoller zu machen, mit Verve und Dynamik durch die aufwendigen Themen.
Retro ist das nicht, jedenfalls nicht in der klassischen Art. Der Sound wirkt zwar dezent angestaubt, aber im Grunde zeitlos in seiner Verbindung von Leichtigkeit und Komplexität. Des Geistes Kind können deutsche und europäische Bands nicht so sein. Die Musikmentalität Raimundo Rodulfos kennt akkurate Exaktheit, rafft selbige aus dem unbrauchbaren Schlamm allen Musikmülls und spielt damit in höchster Virtuosität.
Tolles Album. Tonnenweise Melodiematerial, unzählige Ideen, schlüssig, eingängig und in allem ästhetischen Schönklang von enormer Rasanz. In aller himmlisch verspielten, akkurat exakten Holperigkeit…

raimundorodulfo.com
musearecords.com
VM



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