Porcupine Tree "Deadwing" (CD/CD+DVD/DVD/LP) "Lazarus" (Single) (Lava Records 2005)

Für Ende März 2005 kündigte sich ein neues Porcupine Tree-Album an. Dem Nachfolger des herausragenden "In Absentia" wurde von den Fans mit großen Erwartungen entgegengefiebert. Schließlich kann man sich bei Steven Wilson nie sicher sein, in welche Richtung es nun gehen wird. Bisher waren seine Stilwechsel aber immer geglückte Veränderungen des Porcupine Tree-Sounds.

In 2005 bildet immer noch die "In Absentia"-Besetzung Steven Wilson (Gesang, Tasten, Gitarre), Richard Barbieri (Tasten), Colin Edwin (Bass) und Gavin Harrison (Schlagzeug) die Band, keine Veränderungen also hier.

Als kleiner Vorgeschmack auf das Album "Deadwing" veröffentlichten Porcupine Tree zunächst die Single "Lazarus". Dieser Albumtrack ist hier in einer leicht editierten Version enthalten. Dazu kommen noch die beiden Non-Albumtracks "So Called Friend" und "Half-Light".

"Lazarus" ist eine sanfte Piano-Ballade, die so allein für sich stehend einigermaßen unspektakulär wirkt. Es dürfte sich daher bei diesem ersten Lebenszeichen von Porcupine Tree leichte Enttäuschung eingestellt haben. Allerdings reißen das dynamisch-rockige "So Called Friend" (dieser Song ist auf dem Weg zu einem meiner PT-All-Time-Faves) und das floydig-schwebende "Half-Light" die Single aus dem Mittelmass und machen Appetit auf das Studio-Album.

Ca. 14 Tage nach "Lazarus" kam dann also "Deadwing" in die Plattenläden...

Steven Wilsons Drang zur Weiterentwicklung und sein Talent sein aktuelles musikalische Umfeld in den Porcupine Tree-Sound zu integrieren, macht jedes neue PT-Album zu einem Abenteuer... dabei geht er in letzter Zeit seine Schritte sozusagen im "Zweier-Modus", will heißen ein Album verändert den Stil deutlich, der Nachfolger verfeinert das dann. So gesehen steht "Deadwing" zu "In Absentia" wie "Lightbulb Sun" zu "Stupid Dream"...

"Deadwing" macht es dem Hörer nicht leicht. Aber wahrscheinlich war es auch für Steven Wilson und seine Mannen nicht leicht einen Nachfolger für das hochgelobte "In Absentia"-Album zu kreieren. Auch wenn ich im Internet und verschiedenen Publikationen gelesen habe, dass der Entstehungsprozess dieses Albums mehr denn je ein Werk der ganzen Band war, habe ich trotzdem den Eindruck es geht wieder mehr zurück in die Phasen, in denen Wilson alles selbst gemacht hat. Er hat meiner Meinung wieder viel mehr instrumentale Anteile wie zuletzt (spielt nicht nur Gitarre und ab und an Tasten, sondern ziemlich viel Piano und dann auch noch den Bass hin und wieder) und die Kompositionen hat er ohnehin fest in seiner Hand (ein paar Ausnahmen bestätigen die Regel). Vielleicht ist daher "Deadwing" zunächst ein eher sperriges Album geworden.

Dabei donnert das Album richtiggehend los. Der eröffnende Titeltrack ist schon ein ziemlicher Hammer, der mit heftiger Gitarrenarbeit, den beiden schrägen Soli von Gast Adrian Belew (King Crimson) und dem fast schon gesprochenen Gesang nicht allzu anheimelnd wirkt. Besonders gelungen ist der Gimmick mit den "dunklen" Harmony-Vocals (vom weiteren Gast Mikael Akerfeld (Opeth) ? ). Cool ist der atmosphärische Anti-Klimax in der Song-Mitte. Etwas störend empfinde ich hier das Schlagzeug, welches nicht nur einen irgendwie komischen Klang hat, sondern auch zu straight-forward gespielt wird.

Wem noch die Ohren von "Deadwing" schlackern, der wird erst recht unter den fast schon brutalen Riffs von "Shallow" zusammenzucken. Porcupine Tree verschieben ihre persönliche Härtegrenze noch ein Stück weiter Richtung Westen ;-) (aber Metal gibt es natürlich noch nicht, dazu gehören neben ein paar Riffs schon noch andere Sachen...).

Als Ruhepol folgt dann die Ballade "Lazarus", die Vorab-Single, siehe oben. In diesen Kontext gestellt kann mich das Lied schon viel mehr erfreuen. Die Kombination "Deadwing" - "Shallow" - "Lazarus" ist eine echte Gänsehaut-Passage und kann einem wirklich Ergriffenheits-Tränen in die Augen treiben.

"Halo" bietet uns gutgemachten, wieder etwas härteren Alternative Rock, bevor mit ruhigen Synthieklängen der "besonders wertvolle" Track des Albums eingeleitet wird. "Arriving Somewhere But Not Here" dürfte demnächst einer der Porcupine Tree-Klassiker werden. Ruhiger Beginn, wunderschöner, mehrstimmiger (oder zumindest gedoppelter) Gesang, es entfaltet sich ein Song im Stile von "Even Less". Bis, ja bis ein geradezu dämonischer Heavy-Part im Mittelteil den Wohlklang aufs heftigste aufbricht. Ein Hammerpart, der in den geradezu erlösenden hymnischen Schlussteil mündet. Wer da nicht eine gigantische Gänsehaut entwickelt, ist wahrscheinlich schon tot ;-)

"Mellotron Scratch" ist der dringend benötigte ruhige Gegenpol, auch wenn hier zum Schluss schon wieder ein bisschen aufgedreht wird. Das folgende "Open Car" ist ein netter Rocker ohne Besonderheiten. Wenn man will, der Schwachpunkt des Albums, aber was heißt das schon, wenn soviel Gutes geboten wird. Ich hätte allerdings schon lieber "So Called Friend" von der "Lazarus"-Single, welches von "Open Car" verdrängt wurde, auf dem Album gehabt.

Mit "Start Of Something Beautiful" - nomen est omen - heben die 'Trees' dann noch mal richtig ab. Eine hypnotische Basslinie saugt den Hörer in den Song, Steven Wilson singt göttlich, zarte Synthie-Effekte sorgen für Atmosphäre. Einer dieser schwebenden, unwirklichen PT-Tracks, wenn auch hier mit gelegentlich härteren Gitarren als früher.

Endgültig in das Himmelreich der Wohlklänge und umschmeichelnder Musik hebt dann der Abschluss mit "Glass Arm Shattering" ab. Ein gelungener Ausklang dessen, was so heftig begann. Floydig-schwebend treibt die Musik dahin und selten klang ein "Schallalala" so unpeinlich... Wäre "Half-Light" die bessere Wahl gewesen? Hier würde ich sagen: Nein.

"Deadwing" wirkt verschlossen, zunächst düster. Das mag daran liegen, dass dem Album eine Art Konzept zugrunde liegt. Es geht um einen Toningenieur, der unter ungewöhnlichen Umständen sein Gehör und damit seine Existenzgrundlage verliert. Das Ganze soll vielleicht mal als Film veröffentlicht werden. Das mag auch daran liegen, dass es keine so genialen und sofort wahrnehmbaren Melodien wie auf "In Absentia" gibt. Gavin Harrison trifft nicht immer den richtigen Drum-Ton und Richard Barbieri agiert auch eher verhalten. Dies alles führt zunächst zu einem Gefühl einer gewissen Ernüchterung. Und belassen "In Absentia" die Position des besten Porcupine Tree-Werks bisher.

Aber wenn sich einem das Album, welches viel stärker nur als Gesamtwerk wirkt als alle vorherigen PT-Werke, nach und nach erschließt, dann lösen sich viele Vorbehalte und scheinbare Negativ-Punkte in Nichts auf. Der Spannungsbogen dieses Albums findet sich nicht in einzelnen Songs, sondern nur über das Ganze hinweg. So gesehen kann dies nur eine vorläufige, provisorische Bestandsaufnahme sein... dieses Album hat sicherlich das Potential für viele unterhaltsame Stunden, die einem immer wieder etwas Neues eröffnen.

Werden Porcupine Tree nun mit diesem Album zu einem Mega-Act, der auch außerhalb einer kleinen Szene wahrgenommen wird? Ich weiß es nicht, ich glaube es aber ehrlich gesagt nicht, dafür ist "Deadwing" denn doch wieder etwas zu schwere Kost, möchte ich vermuten. Immerhin spielte sich die gerade gelaufene Tour zum Album vor vollen, meist ausverkauften, Sälen ab. Und zumindest könnte dies aber eines dieser Alben sein, welche alle Proggie-Fraktionen vom NeoProgWeichEi bis hin zum beinharten Avantgarde-Freak begeistern können.

Und weil es so schön ist, bringt Lava Records "Deadwing" auch gleich als edle Audio-DVD mit Bonustracks, Making Of, Trailer, Photo Gallery und Lyrics auf den Markt. DVD-A 5.1 Surround, DTS 5.1 Surround, PCM 2.0 Stereo, alles neu gemixt und gemastert, in einem feinen, sauberen, fetten Klanggewand, dass die Socken rutschen! Die Süchtigen unter den Porc Freaks müssen wohl zwei Mal in die Taschen greifen, ansonsten muss man sich ganz einfach entscheiden: HIFI oder Dolby Surround. (VM)

porcupinetree.de
Thomas Kohlruß




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