Poets Cry! "Awakening!" (Blue Shade Edition 2003)

"Awakening!" in Worte zu fassen, ist so schwer, wie das Begreifen der melodischen Motive. Die tonale Dichte des stilübergreifenden Albums ist eine große Herausforderung an die Sinne. So tun sich gewaltige elektronische Tongebirge auf, die in melancholische Stille fließen, um daraus erneute Energie zu schöpfen. "Awakening!" ist gewiss ungewöhnlich, in musikalischer wie lyrischer Dimension, von der emotionalen ganz zu schweigen, die den Hörer zum Spielball nimmt und ihn weit aus dem alltäglichen Gefüge reißt. Doch nicht allein die Gewaltigkeit der Melodiehäufungen gilt es zu begreifen. Da verschieben sich tonale Muster, liegen grundverschiedene Klangtypen übereinander, greifen abstrakte Strukturen ineinander, die nicht zusammen zu passen scheinen. Teilweise ist dies so anstrengend, dass nichts mehr nachvollziehbar scheint. Von einem konkreten Rhythmus zu sprechen, wäre vermessen. Die rhythmischen Verschiebungen und Gegenläufe sind so betont, dass nur von aufregender individueller, spontaner Kreativität die Rede sein kann. "All over is Eschede..." ist so ein Stück. Opernstimmen sind ins Off gewebt, tonale Schleifen wiederholen sich, der Rhythmus "stört" die Melodik. Eine improvisative Stimmung erklärt sich, die aus einem freien, schier wilden Geist genährt wird. Doch plötzlich kippt mit "The Miners" das Gefüge. Liedhaftigkeit breitet sich aus wie ein warmer Sonnenstrahl nach harten Hagelschlägen. "Luna Cortese" im Anschluss geht da noch weiter. Das bereits 1928 geschriebene Stück hat wohl noch keine solche Interpretation gefunden. Die Lässigkeit des Themas wird mit spielerischer Verve wie ein schwelgerisches Kinderlied überbetont. Das setzt sich in "In my craft or sullen art" fort. Ein nonchalantes Thema, das wie ein farbenfroher Puff scheint, eine lustvolle Atmosphäre geht mit dem Stück einher, die in der Simplizität des Ganzen einfach fabelhaft klingt. Schließlich reihen sich sehnsuchtsvoll-melancholische Motive aneinander und reizen improvisative Klangvorstellungen aus. Gesampelte Walgesänge schwimmen durch die Fluten des Klanges. Nichts in diesen Songs scheint wirklich atonal und avantgardistisch zu sein und ist es dennoch. Die Ungewöhnlichkeit des Arrangements versteckt disharmonische Brüche und rhythmische Verfremdungen wie sie die gesamte Produktion in ihrer Virtuosität bremst. Oft habe ich den Eindruck, dass sich dieses Projekt weiter hätte hinaus wagen können, differenziertere, wildere Tonkollagen entwickeln, statt sich in pianohafter Liedhaftigkeit (On an early morted) zu begnügen. Anstrengend über die ganze Länge des Werkes bleibt der Gesang. Denn obschon "Awakening!" keine unbedeutende lyrische Dimension auslebt, die sich aus Texten von Theodor Fontane, Dylan Thomas, Georg Trakl und weiterer Autoren speist, ist die Stimme verfremdet, leicht ins Off verschoben. Zudem sind Gesang und Sprechstimme parallel gelegt worden, was sich gegenseitig Raum nimmt. So verliert sich die Möglichkeit, die Texte nachzuvollziehen. Ein weiterer Anstosspunkt sind rhythmische Oberflächlichkeiten. Das eröffnende "A part of Eros Dead" etwa, oder das elfte Stück "Untitled" verschachteln sich gern hinter modernen Dancerhythmen, das raubt Charakter und weckt stumpfe Vorstellungen, die hier sonst nicht bedient werden. Und obschon "Awakening!" eine wahrhafte Fundgrube an seltsamen und eigendynamischen Liedern ist, setzt der 12. Track "Free intro & Round midnight" dem Ganzen die Krone auf. Das ursprüngliche Jazzstück von Thelonius Monk wird zum angeschaukelten Kneipenschunkler, das hinter seiner vordergründigen Schlichtheit gefährlichen Eigensinn zeigt. Grandios! Da kann sich nur das instrumentale "Glow highlands, glow" anschließen, dessen ambiente Struktur die Gefühlsverwirrung der vorherigen Stücke mildert. Ein imposantes Opus. dessen repetitive Verschachtelungen sich dynamisch ins Hirn fressen. "Awakening!" ist ein anspruchsvolles tonales Werk mit sehr schönem Layout. Seine Eigenwilligkeit fordert aufgeschlossene, neugierige Zuhörer. Wer sich Poets Cry! ausliefert, wird berauscht von einem kantigen und doch nachvollziehbaren Werk. Reinhören ist empfohlen! Anschnallen geboten!

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VM




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