Pago Libre Sextett "Platz Dada!" (Christoph Merian Verlag 2008)
Pago Libre "Fake Folk" (Zappel Music 2009)

"Meine süße Puppe - mit ist alles schnuppe - wenn ich meine Schnauze -auf die Deine bautze" - Lenin pfeift im Frühling 1916 in der Küche beim Abwaschen zu der Melodie, die just 92 Jahre später erfunden werden wird, den Text gibt es gerade frisch. Am Telefon bejaht er die auf ihn einbrechenden Stimmen: "Da Da Da Da" in seiner russischen Sprache, Dadaismus? Lenin? Never! Und dann legt die Band los und sie ist nicht mehr zu bremsen, zum Glück erfinden Pago Libre keine Autos, was wäre das für ein ungezügeltes Rasen!
"Platz Dada!" ist ein, ja, verrücktes, und dabei exzellent grandioses Stück Musik, das so frei und lebhaft erdacht, arrangiert, eingespielt und aufgenommen worden ist, dass nichts bleibt, als die Klänge samt ihren gaga, nein dadapoetischen Gesängen offensinnig zu genießen. 74 Minuten der reinste Unsinn. Unsinn? Die Fake Folk Fake Jazz Fake Klassik Kapelle mit dem ganz besonderen Tiefsinn für, noch mal, verrückte, grandios verrückte Klänge, beweist seine radikale Vorliebe für dadaistische Poesie in seiner parallel dazu erdachten, wohl nicht weniger dadaistischen Musiksprache.
"Absurde Poesie aus den 20er Jahre mit Musik von heute" steht auf dem Cover und steckt in den unmöglich ausgedachten Songs. Nichts ist unmöglich. Nichts undenkbar. Die Texte stammen aus den Federn von Hans Arp, Kurt Schwitters und Daniil Charms, in der Bearbeitung der Bandmusiker, einige neue Texte hat die Band selbst, beziehungsweise haben ihre Mitglieder geschrieben, etwa "A klanes Brabitschek".
Wunderbar die Abwechslung von instrumentalen und Sprechstücken. Nach dem fast bombastischen "Uhrmusik: Sekundenzeiger" folgt das unglaublich arrangierte, schlicht herrliche "Weltwunder". Wie die Musikerstimmen sich die Wortbälle zuwerfen, laut und leise singen, fast schreien und das gesprochene Wort in virtuoser Dynamik lebendig machen! Es, doch, gab schon schlechtere Songs auf diesem Planeten, glaube ich, sicher.
Am schönsten jedoch ist, nein, nicht "Schnauze, Puppe!" (doch!), sondern das 5-teilige, sich anschließende "ETANOSRU EUTONARS", das erhebliche avantgardistische Tendenzen zeigt und in seiner genialen Nonsensradikalität partiell fast als Avantrock durchgehen könnte. Schön, dass diese Wucht nicht ausgespart wurde.
Pago Libre, hier, in der personellen "extended version" mit Agnes Heginger (Gesang, Ratsche) (die Dame ist ein Gedicht, was sie singt, wie es tut, ihr Stimmumfang, ihre Stimmklarheit und die Leichtigkeit ihrer melodischen Intonation!), Patrice Héral (Schlagzeug, Stimme, Ratsche) - diese beiden sind das "Sextett", jetzt kommt Pago Libre: Tscho Theissing (Violine, Stimme, Ratsche), Arkady Shikloper (Horn, Flügelhorn, Alphorn, Stimme, Ratsche), John Wolf Brennan (Klavier, Stimme, Ratsche) und Georg Breinschmid (Kontrabass, Stimme, Ratsche) (Ratsche?) ist ein sensibles Künstlerquar(sex)tett mit viel Sinn für absurde Poesie & Klänge, für verspielt zielgenauen Humor, der aus seinem, nun ja, doch, historisch gewordenen, gar und ganz nicht musealen und immer noch und wieder modern und übermorgendlich klingenden Dadaismus lebt und die vitale Musik zu exquisit schrägen Höchstleistungen antreibt. Nichts ist wild dahin geschmettert, diese Crew ist technisch erlesen, detailverliebt und in ihrem Tun höchstbegabt - allein die Damenstimme, in ihrer Klarheit, tonalen Exaktheit und dem dynamischem Feuer, na ja, das hatte ich schon.
Eine große Lust, der verspielten, begnadeten, aus instrumentaler Akkuratesse erwachsenen, deftigen, sensibel rohen, einfühlend krassen und stets ohne sentimentale Süße oder einschmeichelnde Düseligkeit auskommenden Musik zuhören zu dürfen und die sämtlichen Sinne genießerisch baumeln zu lassen. 24 Tracks, die nicht da wären, hätte es Pago Libre, das Klo, das Wo, Kapern, Wien, Zugluft und die Welt niemals gegeben. Und das Brabitschek.
Ach, kann nix mehr sagen. Wunderbare Klangkunst zum gar und ganz darein sich zu verlieben ohne Zuletzt und Rest. Schon 'ne Lieblingsband? Anmachen. Nicht mehr ausmachen. Zuhören, staunen, rühren. Weiterleben.
Die CD gibt es in Deutschland im Vertrieb von Steinbach Sprechende Bücher, also im Buchhandel, oder aber über die Webseite der Band (siehe unten).

Und kaum ist ein Jahr herum, da haben sie, das Quartett, wieder eine ganze CD fertig. 12 Songs. Fast 78 Minuten lang. "Fake Folk". Wieder verrückte Musik? Aber ja!
Komplexe Musik! Fast konzertant hier, wunderbar jazzig dort, stets Folk, na ja, nein, kein Folk. Und ja, "progressiv". Unglaublich progressiv, auch im Sinn des Progressive Rock, wo sie wohl Prog Folk wären. Was nur ist "Original Fake Folk Musik"?
Pago Libre, in zwei Stücken haben sie Patrice Héral als Gastschlagzeuger engagiert, ein wenig Deftigkeit mehr zu intonieren, speisen sich aus vier verschiedenen Sozialisierungssphären: Moskau (Arkady Shilkloper), Österreich (Tscho Theissing), Irland-Schweiz (John Wolf Brennan) und das internationale Wien (Georg Breinschmid) - wo der eine nur eine Stadt braucht, um aufzuwachsen, dem anderen just ein Land ausreicht, nimmt der nächste davon gleich zwei und der letzte gar das ganze internationale Wien!
Und so klingt die Musik - ganz anders als das Vorjahreswerk ist jeder Witz (kein Witz) instrumental und damit nicht minder ausgeprägt. Lebhafte Virtuosität steckt in den kurzweiligen Arrangements, den wunderbar sympathischen, teilweise schwer komplexen, instrumental ausgefeilten, mal herrlich spinnerten, dann melancholisch verinnerlichten Kompositionen. Es gibt rasante Jazz-Soli, ungemein virtuoses Spiel, das endlose Spiellust beweist und die fabelhafte technische Handwerkskunst der Musiker an ihren Instrumenten, dazu rauschend beschwingende Mini-Zitate (etwa aus "Peter und der Wolf").
Die Platte und ihre 12 zwischen 5 und 9 Minuten langen Songs haben ein großes Herz und unzähligen anarchischen Instrumentalwitz. "Fake Folk" ist wohl DER Titel schlechthin. Als was könnte die Band ihren Sound sonst anbieten? Es hat wohl von allem (Guten) etwas, nutzt folkige Klänge, die mal mehr Jazz oder gar Rock sein können, oder Weltmusik: klar Weltmusik - die Musik stammt vom hiesigen Planeten Erde (Welt)!
Kommt im Weltmusik-Fieber, das gerade betont Pop abstreift und just zu Innigkeit findet, als Folk gut, da es aber solcherlei eher so recht nicht ist, weil, wo auf diesem Planeten klingt die Folklore genau so?, tut es halt so, als ob. "Fake Folk". Bitte sehr!
Die Band hat ihre Songs selbst geschrieben, beziehungsweise ihre Musiker haben das getan und für ihr siebtes, nein neuntes Album die Sache mal wieder perfetto gemacht. Da heißt dann ein Song schon mal "Geröllhaldetanz" oder, ganz im Jazz-Erbe, oder besser im "Fake"-Erbe, denn nix Jazz, "Fake Five".
Zappelmusik für Stillsitzer. Gibt es im Moment am schnellsten bei der Band selbst.

pagolibre.com
VM




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