Naikaku "shell" (Poseidon Records/Musea 2006)

Kennt ihr "Fisches Nachtgesang" von Christian Morgenstern? Ich hätte nicht übel Lust, dieses Review einfach daran zu orientieren. Manchmal habe ich Angst, mit meinen Worten einfach nicht zu treffen (und sicher ist das sehr oft auch der Fall), aber in ganz besonderen Momenten, wie diesem, will ich einfach nur hören und staunen - und nichts sagen müssen.
Die Tokioter Band wurde 1998 von Satoshi Kobayashi (b) gegründet. Nach ihrem ersten Gig organisierten Naikaku ihre Events als instrumentale Festivals, die sie "Instrumental Freak" nannten. Im August 2000 gewann die Band den 3. Platz des japanischen Independent Contest. 2003 veröffentlichten Naikaku ihr Debüt "Wheel of Fortune", im Anschluss tourten sie ausgiebig. Doch das Interesse an Band und CD reichte nicht bis ins Ausland, wohl, weil das Label keine Promotion in Progressive Rock Kreisen machte. Jetzt ist die Band bei Poseidon Records untergekommen und die Außenwirkung dürfte damit bedeutend größer ausfallen. Satoshi Kobayashi (b) und Kazumi Suzuki (fl) sind die Kernband, als Support Mitglieder werden Norimitsu Endo (d) und Mitsuo Muraoka (g, tp) gelistet, als weitere, nicht weniger aktive Musiker sind Kei Fushimi (g) und Daichi Takagi (keys) aufgeführt.
Etwas ganz neues will die Band kreieren. Das gelingt dem Sixpack auch sehr gut, wenn die "Maßstäbe" (wenn man so will) des Progressive Rock dennoch greifen. Das Gros der 6 Tracks ist ausführlich lang und von extremen und außergewöhnlichen Themen durchzogen. Die Musiker üben sich in formidabel technischem Spiel, reizen die Motive ihrer instrumentalen "Songs" mit unendlich vielen und logisch wirkenden Details intensiv aus und vertiefen sich in grandiosem und ungemein spannendem Spiel. Weniger die Keyboards, mehr die Flöte bestimmt das melodische Geschehen, aber nicht im Geiste der üblichen Verdächtigen Jethro Tull oder Focus, sondern nicht mit bekannten Bands vergleichbaren Akzenten. Fast scheint es, als hätten sich Jazzmusiker in Progressive Rock verliebt und übten sich leidenschaftlich und ausschürfend tief darin, alle Facetten ihrer Ideen bis ins Detail auszuloten. Dabei gehen sie ausgesprochen technisch UND emotional vor. Trotz der abstrakten und irritierend einfallsreich radikalen Themen klingt nichts in den Songs nach schrecklich weh tunender Avantgarde, sondern stets melodisch und in aller progressiven Radikalität harmonisch.
Opener "Crisis 051209" entwickelt in 15 Minuten das, worin die meisten folgenden Tracks in nichts nachstehen. Als hätten sie sich in Trance gespielt, begehen die Songs angemessen schroff und ungemein homogen trotz der Vielzahl an Ideen eine virtuose Lyrik, die selbst im Progressive Rock selten ist. Der in gewissem Masse raue Ausdruck des sehr gut eingefangenen Klanges trägt die dramatischen und zuhöchst ansatzweise atonalen und intellektuellen instrumentalen Ausflüge mit Bravour, bis die Band, doch, im Aufschwang des mitreißenden emotionalen Ausbruchs, einen grandiosen Freerock zelebriert, der seinesgleichen sucht. Das hat keine Ähnlichkeit zu King Crimson, aber deren 72er Geist im Blut.
"ressentiment" rockt erheblich, ohne die "schräge" Spitze auszulassen. Da kocht der Saal! Es ist ein Elend, diese Band nicht in Performance erleben zu dürfen und zu entdecken, wie nur Naikaku diese wilden Extravaganzen so lässig gibt. Des dritten Titels Name kann hier auf Grund der Länge nicht aufgeführt werden, fast das gesamte Backcover geht dafür drauf. So lang der Titel, so forsch und mitreißend das Jazzrock-Thema. Ich sage nur: agogische Zentren! Und dabei Tanzmusik!
"Lethe" ist fast schon "normaler" Symphonic Rock. Sehr virtuos, tolle Komposition und ein lebhaft gespieltes und von der kompletten Crew improvisativ auseinander genommenes Thema, das den Liebhabern außergewöhnlicher Rockmusik gewiss besonders gefallen wird. Einmal fast schon Metal, dann wieder im lyrischen Geiste Genesis' aktiv, schließlich nervös hektisch wie Brand X und von einer Herzklopfen verursachenden Melodiestärke, die nicht einfach zu nehmen ist.
Das symphonische Monster "shell" im Geiste Genesis' und King Crimsons fügt seine 16 Minuten entsprechend an. Die Fülle an Inhalt muss erfahren werden, dem können Worte nicht gerecht werden. Das abschließende "tautrogy", der einzige kurze Track, ist ein heavy Kracher, der Jazzrock und avantgardistischen Progressive Rock zur Voodoo Messe vereint. Bass, Keyboards und Schlagzeug machen diesen antreibenden, nervösen Rhythmus, auf dem psychedelische Verrücktheiten wie auf dem Vulkan tanzen. Leider ist das Stück viel zu schnell zu Ende - und mit ihm die grandiose CD "shell". Ein außergewöhnliches Experiment, das das Gros der Menschen auf diesem Planeten gewiss überfordern und den eben solches liebenden großen Rest verzücken wird.
Solche Angaben wie "Pflichtprogramm" klingen immer etwas banal und vor allem dämlich, aber hin und wieder erübrigt sich alles andere, und so will ich nichts anderes als eben dies hier anfügen: Pflichtprogramm!

http://mypage.odn.ne.jp/home/naikaku3104
poseidon.jp
musearecords.com
VM



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