Neal Morse "Sola Scriptura and beyond" (Radiant Records, VÖ: 15.07.2008)
"Lifeline" (Bill Evans Media, VÖ: 01.10.2008)

Gleich zwei neue Produktionen fasse ich in diesem Text zusammen: die 2DVD und die neue CD des (neugeborenen) christlichen Singer/Songwriters und Progressive Rockers Neal Morse, dessen Karriere und umfassender Output in der weltweiten Progressive Rock Szene wohl bekannt sind. 22 Alben und 4 DVDs hat Neal Morse in 15 Jahren mit 3 Bands eingespielt. Die DVDs, die zusammen rund 352 Minuten drauf haben (!), beschäftigen sich mit seinen beiden letzten (Progressive Rock) Alben "Sola Scriptura" und "Question". DVD1 enthält ein 169 Minuten langes Konzert, das am 26. Mai 2007 im holländischen Zoetemeer im De Boerderij mitgeschnitten wurde. Mit Mittelpunkt des Geschehens Neal Morse, der Keyboard und Gitarre spielt und singt, lange Soli und komplexe Texturen lebhaft feiert, als wäre das ein leichtes Kinderspiel, stets gute Laune versprüht und Energie für zwei hat. Darum mit Wilco van Esschoten (b, voc), Jessica Koomen (voc, key), Collin Leijenaar (dr), Henk Doest (key) und Paul Bielatowicz (g, voc) eine exzellente Crew, die Morse' Kompositionen mit Verve und Dynamik spielt, wobei vor allem Schlagzeuger Collin Leijenaar besonders positiv auffällt. Trommler par excellence, der neben seiner druckvoll und vital ausgeführten Arbeit Zeit und Muße für Grimassen und kleine Gags hat und die heftig rockende Musik mit Leidenschaft und Herzblut fundamentiert. Seine Präsentation allein wäre die halbe Miete, wenn Neal Morse ihn nicht mit seiner Präsenz in den Hintergrund rücken würde. Die weiteren Musiker stehen technisch in nichts nach, haben jedoch nicht die Aufmerksamkeit der diversen Kameras, die der Chef und sein Schlagzeuger aufsaugen.
Neal Morse' Musik macht immer noch Laune, wenn sein Stil auch bereits in den ersten Tönen zu erkennen ist und jedes Album aufs Neue eine Variation seiner einen Musiksprache ist. Beeindruckend vor allem die langen Instrumentalparts, die gut Zeit für Soli und heftiges Rocken haben. In den Vokalparts wird's, wie bekannt, stets liedhafter und poppiger. Das lange Konzert besteht nur aus 5 Tracks, von denen vor allem der letzte unendlich lang ist, was die Band scheinbar nicht ermüdet. Bis zum letzten Ton arbeitet die Crew, wie haben die das nur auswendig gelernt, das komplexe Material in all seinen Facetten, Kanten und Brüchen vital ab. Beeindruckend!
DVD2 ist als Bonus gelistet. Da gibt es einen "Behind the scenes" Part, die akustische Version vom transatlantischen "Bridge Across Forever" und 9 Live-Tracks von der "Question Mark"-Tour, die (im Berliner Columbia Club) wesentlich weniger gut fotografiert sind, aber nicht weniger Rock'n'Roll auf die Bühne bringt. DVD2 hat circa 183 Minuten drauf und zeigt einmal mehr, dass die Truppe Spaß beim Musizieren hat und auch sonst nicht von traurigen Eltern ist. Im Vergleich zur kürzlich veröffentlichten DVD von Spock's Beard kommt diese (und jede für sich) DVD weitaus besser an. Die Performance ist intensiver, die Band rockt härter, die Songs sind komplexer und es gibt Soli und Improvisationen wie Feuer für den brennenden Ofen der Süchtigen, bis der Sessel durchgesessen ist. Meine Empfehlung für alle, die sich von Neal Morse angesprochen fühlen.

Anfang Oktober gibt es die neue CD von Neal Morse. Keine Ahnung, woraus er die Inspiration für so viel Musik zieht. Seit er sich von Spock's Beard getrennt hat, ist er produktiver als je zuvor. "Lifeline", 7 Songs und 70 Minuten lang, zeigt den Multiinstrumentalisten von altbekannter Seite. Opener "Lifeline" (der noch aus den Sessions zu Spock's Beard "V"-Sessions stammt) hat dreizehn Minuten, instrumental erlesenen Progressive Rock Marke Neal Morse mit christlichen Texten zu präsentieren. Mehr als je zuvor, habe ich den Eindruck, bringt Neal Morse seinen christlichen Glauben in seine Texte ein, was manchmal, in den Refrains, etwas zu viel ist. In den Songs, die dieses Mal kein Konzeptalbum, sondern "nur" eine ganz normale, wenn man so will, unabhängige Songabfolge bieten, geht es um Erfahrungen und Gedanken, die Neal Morse in den letzten Jahren geprägt haben.
Mit Randy George (b) und Mike Portnoy (dr) sind zwei seiner Kumpels an Bord, die schon öfter an der Einspielung seiner Alben beteiligt waren und als exzellente Handwerker bekannt sind.
"Lifeline" hat in aller Komplexität und kraftvollen Rocksprache in vielen Stücken poppige Aspekte, die mal im lockeren Schlagzeugspiel, in leichtgängigen Arrangements oder kürzeren Kompositionen zu finden sind. "Can't find my way" ist eine Ballade, die problemlos durch Radiokanäle schlängeln kann. Schlimm wird es in dem mit Billigtakt ausgestatteten und Harmoniekitsch-beseelten "Children of the Chosen". Das jazzige "Leviathan" mit Darkness-Bläsern und Pseudo-Marimba hingegen ist düsterer Hardrock mit Humor, ein, mit Verlaub, schlicht saugeiles Stück Musik!
"Many Roads", weit über 28 Minuten lang, ist ein typisch vielseitiges Morse-Paradestück mit progressiven Attacken, poppigen Phasen, hartem Rock, balladesken Einschüben, sanftem Gesang und schneidend harten Gitarrensoli, das symphonischen Bombast nicht überraschend, aber überzeugend präsentiert.
Stellt Euch vor, YES und Genesis hätten ihren besten Stil, so circa 1972/73 nie geändert und immer weiter auf die gleiche Art und Weise musiziert, wie das ein jeder der Progsucht erlegene Musikjunkie in stiller Stunde im geheimen einst gehofft hat. Noch heute hofft mancher Fan auf die Musik hinter diesen Namen, obschon die Messen längst gelesen sind. Wäre es, nur angenommen, was nie realistisch war, so gekommen, ein jeder Fan hätte sich spätestens 1979, nach 6 weiteren Platten, einen Wechsel gewünscht, selbst wenn die Qualität nie nachgelassen hätte.
Neal Morse bleibt sich hingegen treu, er zelebriert seinen Stil von Album zu Album auf die immer gleiche Weise, ohne qualitativ nachzulassen. Was nachlässt, ist die Neugierde der Zuhörer, weil ihnen sein Stil ins Mark gegangen und die DNA seines Stils komplett aufgeschlüsselt ist. Ist es das Schicksal des Musikers, noch immer Ideen und Lust zu haben, wenn seine Fans seine Schuhgröße schon im Schlaf herunterbeten können?
Für mich persönlich ist die Live-DVD mit ihrem vitalen Rock viel interessanter als das neue Studioalbum, obwohl dieses wie jedes Album zuvor mit vielen facettenreichen Details ausgestattet ist und die Kompositionen überzeugen. Bleibt zu hoffen, dass die dem schöngeistigen symphonischen Rock erlegenen Fans, was ich letztlich nicht bin (wie bekannt, treibt mich eher die hektische, jazzverseuchte "Schräglage" an), ihrem, und das ist er sicher uneingeschränkt, Prog-Star treu bleiben und das lebhafte Album ihr Wohnzimmer zum Beben bringen lassen.

nealmorse.com
neal-morse.de
VM



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