Neal Morse "? - Live" (Radiant Records 2007)

Nachdem ich das letzte Album "Sola Scriptura" ziemlich abgekanzelt habe - tatsächlich ist das Werk bei allen Selbstzitaten doch von großartiger, komplexer und zuhöchst aufwendiger Struktur, ein lebhaftes, intensives und mitreißendes, ungemein facettenreiches Album - nutze ich die Gelegenheit, Neal Morse ein wenig Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Er ist nicht nur ein begabter, inspirierter Musiker, er muss gegen Windmühlen kämpfen. Wohl, um sich und der Welt zu beweisen, dass seine Entscheidung, Spocks Beard zu verlassen und damit die Erfolgsstory der Band ins Strudeln zu bringen (wie sich gezeigt hat), selbst unter der Gefahr persönlicher, finanzieller und ansehenstechnischer Einbußen, hat Neal Morse die Flucht nach vom gewagt, und komponiert, was das Zeug hält. Seine Soloalben klingen allesamt wie Spocks Beard und jetzt weiß die ganze, großkleine Progwelt, was die Turmuhr geschlagen hat: Spocks Beard war Neal Morse, seine Mitstreiter waren Nutznießer seines begabten Kopfes. Nicht er hat die Einbuße tragen müssen, als er ausstieg, die Restband buckelt den Verlust. Neal Morse mutierte zum Dauerbrenner, als hätte ihm sein Bekenntnis zum Glauben an Gott unendlich Kraft gegeben, purzelte plötzlich Album nach Album aus seiner Kreativität. Gute Alben, wohl gemerkt, progressive Musik, komplexe Musik.

"?" ist gewiss ein kraftvolles Werk. Davon eine Live-Version, zudem eine solch dynamische, zu veröffentlichen - keine schlechte Idee. Gewiss hat Neal Morse in letzten Jahren erheblich viel Musik veröffentlicht und seine Einflüsse und Facetten überall verteilt, doch für dieses Werk darf und kann Platz sein. "?" in der Liveversion ist ein echter Knüller!
In improvisativen Phasen, instrumental langen Läufen, ist zu hören, dass die komplett holländische Begleitband gefordert war, diese seine komplexe Musik lebendig und virtuos zu intonieren. Das Team ist gewiss von der Bühne gleich ins Bett gefallen. Von Mattheit oder technischer Tücke jedoch keine Spur, die Band hat Großes, und das Große gut geleistet.
Neal Morse Stimme zeigt sich leicht gealtert, hat aber immer noch kraftvollen, ausdrucksstarken Klang. Sein Gesang bestimmt das Konzert stark, selbst in instrumentalen Läufen, wenn die einzelnen Musiker zu Soli ansetzen, ist er mit anfeuernden Worten (beziehungsweise Anweisungen, wer als nächstes dran ist) zu hören. Die Soli sind verspielt und locker, haben Atmosphäre und rocken und rollen. Am 14. Juli 2006 herrschte im Berliner "Columbia Club" eine erregte, heiße Stimmung. Die Chorpassagen sind gesampelt, fügen sich gut ins Klangbild, ohne die Band zu vereinnahmen. Das komplette Konzert auf CD1 klingt perfekt gut, von Herzen, intensiv gespielt, kleinere Pannen zwischendrin sind da nur sympathisch. Der Schlagzeugsound ist etwas synthetisch. Dennoch - eine beeindruckende Performance! Ist auch ein gutes Werk -

CD2 wartet mit 6 Stücken von "One" auf. Die Musik ist, obwohl die Songs teilweise erheblich länger sind, bis 18 Minuten, deutlich poppiger und schlichter. Die Energie des ersten Teils wird nicht im Ansatz erreicht. Dennoch ist auch diese Performance bis auf Ausnahmen hörenswert. Die Singer/Songwriter-Songs zwischendrin seien verziehen. Ebenso die schlichteren Kompositionen der Symphonic-Longtracks.
An Persönlichkeiten wie Neal Morse (oder Roine Stolt) ist zu spüren, was den Musikkünstler ausmacht. Diese sind wirkliche, ausgebildete, begabte Künstler, während Andere, die in ihren Bands funktionieren, niemals größeren künstlerischen Ausdruck tätigen können oder, wie Neal Morse ganz konkret auf CD1, in harmonisch komplizierten Passagen den richtigen Ton mit Verve und stürmischer Energie auf Anhieb treffen.
"? - Live" ist wie sein Studiopendant ein ausdrucksstarkes, tolles Stück Musik. Doch die Progmeute ist undankbar. Wer einmal auf höchstem Niveau gespeist hat, nimmt kein billiges Essen, kein schlichtes Geschirr mehr. Der will immer mehr. Und fordert von seiner Kapelle stets größere Heldentaten. Wir Wohnzimmersesselkönige, die wir selbst nur wenig außergewöhnlich Positives im Leben zustande bringen, wenn überhaupt, fordern unermesslich. Und werden wieder und wieder verwöhnt, was uns nicht mehr reicht.

nealmorse.com
VM



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