Michael Gibbs & The NDR Bigband
"In My View"
"Play A Bill Frisell Set List"
(Cuneiform Records 06_2015)


Im Pressetext zu den beiden neuen Alben des Jazzkomponisten mit der NDR Bigband ist ganz zu Beginn über Michael Gibbs zu lesen: "…criminally under-documented master…". Wie wahr! Der 1937 in Salisbury, Südrhodesien (heute Harare, Simbabwe) geborene, 1959 nach Boston, USA (Berklee College of Music) umgezogene, in den 1980ern in London, UK, lebende und heute in Malaga, Spanien wohnhafte Michael Gibbs arbeitete an Universitäten, komponierte für und spielte mit Jazz- und Popgrößen, veröffentlichte zwischen 1970 und 1975, sowie ab 1987 erneut Bigband-Jazz-, Fusion- und Soundtrack-Alben und ist als Mitarbeiter auf Alben anderer Künstler, etwa Graham Collier, Gary Burton, Stanley Clarke, Mahavishnu Orchestra, Peter Gabriel, Joni Mitchell oder WDR- & NDR-Bigband, auf zahlreichen LP-Veröffentlichungen zu hören. Die meisten der frühen LPs, im Original schon in den 1970ern ausverkauft, sind nur Second Hand zu finden, mit Glück. Kaum eines seiner Alben ist auf CD, oder wenn, weit weg in Japan oder nur in geringer Edition neu aufgelegt worden.
Es ist an der Zeit, den Mann mit großartiger Handschrift, ebensolcher Inspiration und vitaler Kreativität zu würdigen. Cuneiform Records veröffentlicht nicht aus dem raren Backkatalog des Komponisten, Arrangeurs und Dirigenten des Jazz, sondern, separat, zwei neue Werke. 2012 war bereits "Back in the Days" den beiden aktuellen Scheiben vorausgegangen, als Sammlung verschiedener Kompositionen aus den Jahren 1995 bis 2003. 2014 folgte (auf ACT Music) "Celebration The Dark Side Of The Moon" (Pink Floyd), ebenfalls mit der NDR Bigband, und unter Mitarbeit des Gitarristen Nguyên Lê, der die Arrangements für Bigband schrieb.
Seit 2011 sind "In My View" und "Play A Bill Frisell Set List" nun die vierte und fünfte Produktion in Zusammenarbeit von Michael Gibbs und der NDR Bigband, der ‚Powerhouse' Bigband, wie es im Pressetext steht und in den instrumentalen Tracks auf beiden CDs zu hören ist.

"In My View" ist zwischen 2013 und 2015 beim Norddeutschen Rundfunk (NDR) in Hamburg aufgezeichnet worden. 9 ausladende Tracks, zwischen 4:03 und 8:42 Minuten und zusammen 57:22 Minuten füllend, sind auf der CD versammelt. Gut zu hören, dass der Komponist und Arrangeur kein junger Mann ist. Hier ist keine Hektik, nichts schnell geschrieben, sondern wohl durchdacht und vielfach konzentriert und klug überarbeitet. Was nicht heißt, dass "In My View" ein gemächliches Altherrenwerk ist, beileibe nicht. Die ausgelassen vitale, kernig saftig arbeitende und auf rasant komplexem Rockrhythmus arbeitende Bigband weiß die vielfachen Facetten der Songs lebhaft und äußerst hinreißend zu interpretieren. Vier Gibbs-Kompositionen stehen "Ida Lupino" von Carla Bley, "Misterioso" (Thelonious Monk - auf beiden CDs [in unterschiedlichen Versionen] enthalten), "Ramblin'" des kürzlich 85-jährig verstorbenen Meisters Ornette Coleman und zuletzt "Goodbye" von Gordon Hill Jenkins gegenüber. Das Bigband-Interplay ist rasant und süffig elegant, charmant bis kraftvoll berstend, von energischen, emotionalen Soli durchsetzt und in allem Feinschliff sehr lebhaft und schön aufgeregt trotz des partiell etwas leichtfüßig Sanften und raffiniert Linden. Besonders Schräges und Ausgefallenes passiert nicht, die Arrangements sind streng konzipiert. Freie Läufe oder ausgeflippt Überraschendes sind lediglich den Soli vorbehalten. Und genau so macht die Chose ungemein Spaß. Der Komponist hat seine Kreativität ausgekippt, beweist Inspiration und Gefühl für Harmonie und melodische Situationen und Brüche, mag diesen forciert kernigen Rhythmusansatz und die eleganten, phrasiert mäandernden Bläserläufe mit steten Umverteilungsschwerpunkten, in denen die verschiedenen Bläser, der Pianist, in einem Fall je Gitarre, Bass und Schlagzeug zu persönlichen Soli ansetzen.
"Spanish Sketch" ist der Hit der CD, "As A Matter Of Fact" die interessanteste Komposition und "Mood" sowie "Misterioso" die schönsten Balladen. Die Beckenarbeit des Schlagzeugers - Madonna Mia! Doch mein Lieblingstrack, vielleicht aus aktuellem Anlass, ist Ornette Colemans lässiges "Ramblin'" - gut getroffen. Das Jazzgitarrensoli, schön abstrakt und fast etwas leise, will entdeckt werden. Doch nicht dieser Track allein, alle Songs auf der CD sind für stetes Anhören großartig geeignet.

"Play A Bill Frisell Set List" wurde live am 26. Oktober 2013 anlässlich des Überjazz Festivals im norddeutschen Hamburg aufgezeichnet. Und diese Aufnahmen sind noch intensiver, vitaler und dynamischer als "In My View". Ich sah die NDR Bigband einige Male live, in Theatern und auf Festivals, etwa der Zappanale, und in der Aula eines Stralsunder Gymnasiums - und jedes Mal hat es mich umgehauen. Ob Colin Towns, andere Dirigenten und grandiose Gastschlagzeuger und die Interpretation großartiger Komponisten aus Jazz und Rock - jedes Mal feuerte die Bigband traumhaft illustre Konzerte ab. Dieses habe ich nicht gesehen. Gut, dass ich es jetzt - wie jeder andere Jazzhörer auch - per CD ins eigene Wohnzimmer holen kann.
Michael Gibbs, die NDR Bigband, Jeff Ballard (dr) und Bill Frisell (g) - vielleicht ist (sträflicherweise) Michael Gibbs die allgemein unbekannteste Position des Ensembles, vielleicht Jeff Ballard, das tut nun nichts zur Sache, das Konzert, die neun Tracks, zwischen 3:31 und 8:28, zusammen 61:11 Minuten lang, sind nur unbedingt zu empfehlen.
Zuerst fällt die hohe handwerklich technische Qualität (aller Beteiligten) auf, die konzentrierte Intensität und dabei rasant und verspielt dynamische und von zahllosen Soli durchzogene Performance der Musiker unter dem Dirigat Michael Gibbs'. 4 Kompositionen brachte Bill Frisell mit, Gil Evans (gut!), Lee Konitz (herzhaft!), Benny Goodman/William (Count) Basie (grandios!), noch einmal "Misterioso" von Thelonious Monk (intensiv!) und das harmlos balladeske "You've Got To Hide Your Love Away" der jungen Beatles Lennon/McCartney können spitze Bläserspritzen, stete Gitarrensoli beziehungsweise elegant kraftvolles Gitarrenspiel des Meisters Frisell und ausgelassen farbenreiche, energisch vitale und pausenlos ackernde Rhythmusarbeit des dynamisch intuitiven Schlagzeugers Jeff Ballard.
Bill Frisells eigene Kompositionen haben folkloristisches, fast countryeskes Flair, schweben fast, bis die Bigband das Thema verinnerlicht, hochfährt und aus der ursprünglichen Kompositionen ein lebhaft rasantes, echtes Stück Musik wird, das viel mehr ist als seine Idee und geschriebene Komposition. Während des Beatles-Stückes schwelgt das komplette Ensemble, gehen die kratzigen Bläser vielschichtiges Unisonospiel an, fast scheint es, als seien alle Beteiligten in nostalgischer Schwermut vereint und der Song spielt sich von ganz allein.
Gut, dass im Anschluss das humorvolle "Benny's Bugle" ansetzt, dessen leichthändige und schön historische Note sehr kurzweilige 5:17 Minuten füllt. Und dann folgt nur noch das neckische "Freddy's Step", leider mit 3:31 Minuten so sehr kurz. Die Bläserattacken, die grandiose (!) Schlagzeugarbeit, die Lust am Spiel, der Humor, die Kurzweiligkeit - da fehlt nur der Steptänzer.
Nichts fehlt.
Absolute Empfehlung für beide Alben!

Längst überfällig zudem, dass die frühen Alben aus den Jahren 1970 und 1975 als professionelle Reissues angegangen werden.

cuneiformrecords.com/bandshtml/gibbs.html
gibbs.onttonen.info
VM



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