MAGMA - Der Kobaia-Zyklus



Auf dem Planeten Terra zählt man das Jahr Zweitausendundsowieso. Die sozialen Mißstände streben einem katastrophalen Chaos entgegen. Eine Handvoll weitsichtiger Menschen macht sich mit einem selbst konstruierten Raumschiff auf, durchbricht die terristrische Raumkontrolle und begibt sich auf die Suche nach neuen Existenzmöglichkeiten ins Weltall. Nach einer gefahrvollen Odyssee im Space erreichen sie einen bewohnbaren Planeten und taufen ihn auf den Namen Kobaia.
Nur langsam und unter immensen Schwierigkeiten können die Weltensucher die Kolonisation ihres neuen Planeten in Angriff nehmen. Dennoch haben die "Kobaianer" schon bald einen technisch hohen Entwicklungsstand erreicht, der dem irdischen weit überlegen ist.
Einige Jahre vergehen, bis ein terristrisches Raumschiff vor Kobaia in technische Schwierigkeiten gerät und die Besatzung von den Kobaianern vor dem sicheren Tod gerettet wird. Während die Kobaianer von den Erdbewohnern erfahren, dass der angebliche Fortschritt in eine immer ausweglosere Sackgasse führt, erkennen die Besucher von der Erde, dass sich auf dem Planeten eine reife Zivilisation entwickelt hat, die menschliche Spannungen und Konflikte längst überwunden hat.
Fasziniert von der kobaianischen Kultur bitten die Raumfahrer ihre Retter, eine Gesandtschaft zur Erde zu senden, um die Menschen in das Wesen der kobaianischen Philosophie und sozialen Organisation einzuweisen. Nach anfänglichem Zögern willigen die Kobaianer ein und rüsten ein Raumschiff aus, das wenig später auf der Erde landet. Die Besucher aus dem Weltall werden anfangs freundlich aufgenommen und behandelt; ihre technischen Errungenschaften werden bestaunt. Aber schon bald schlägt die Sympathie in Aggression um. Denn als die Gesandtschaft die Menschheit dazu auffordert, sich von ihren negativen und destruktiven Gewohnheiten zu trennen, um so die geistige Entwicklung anzutreiben, reagieren die Erdbewohner mit offener Feindseligkeit. Das Raumschiff wird beschlagnahmt, die Kobaianer gefangen genommen. Vor ihrer Überwältigung gelingt es ihnen jedoch, einen Hilferuf nach Kobaia zu schicken. Von dort werden Rettungsmannschaften ausgesandt, die die politischen Führer der Erde dazu zwingen, die kobaianische Gesandtschaft freizulassen. Im sicheren Bewusstsein, nie wieder zur Erde zurückzukehren, verläßt die Gesandtschaft die Erde. Jahre vergehen. Unter den anonymen Massen der Menschheit befinden sich einige Wenige, die den Vorfall mit den Kobaianern nicht vergessen haben und die Menschen dazu auffordern, die geistige Entwicklung der Kobaianer nachzuvollziehen.
Der Appell an die menschliche Vernunft aber bewirkt wiederum nur den Rückfall in verstärkte Aggressionen. Die Mahner und Propheten sind ein Dorn im Auge der Masse, den man zu beseitigen sucht, um die gewohnte Ruhe und Lügenfassade wieder herzustellen.
Ein Mann, Nebehr Gudahtt, provoziert mit seinen Aufrufen und Vorhaltungen das Volk derart, dass sich eine Gruppe zusammenrottet und mit kriegerischem Geschrei gegen ihn zieht. Doch während die Menge marschiert und schreit, verlieren die Worte schlagartig Sinn und Bedeutung; wie weggewischt ist die eigentliche Absicht des Marsches. Ausgelöst durch eine kosmische Einwirkung erkennen die Menschen ihre Blindheit und begreifen, dass ihre Zukunft nur durch eine tiefgreifende geistige Veränderung gesichert werden kann.
Nun erst, nachdem sich diese Erkenntnis durchgesetzt hat, sind die Menschen dazu fähig, ihre Existenz in kosmischer Dimension zu begreifen. Sie sind offen für die Botschaften des Universums, das nun mit einer Läuterung und Umgestaltung des menschlichen Lebens beginnt...


Die französische Band Magma wurde 1969 in Paris von dem Schlagzeuger Christian Vander gegründet. Wie tief Vanders persönliche Identifizierung zu der von ihm erschaffenen Geschichte und Philosophie um Kobaia reichte, wurde durch seine Worte: "wenn Magma stirbt, sterbe auch ich" deutlich. Heute, aus einem großen zeitlichen Abstand zu den kobaianischen Anfangstagen sieht alles nüchterner aus. Magma ist zwar nicht gestorben, aber nicht mehr (unbedingt) in dem Sinne aktiv, den die mit den Alben fortlaufend weitergeführte Geschichte begonnen hat. Magma arbeiten heute live sehr aktiv, ihre Konzerte sind erfolgreich, wenn auch vor kleinerem Publikum als in den 70er Jahren. Aber einen festen Fankreis hat die Band immer noch um sich geschart. Und im Auditorium sind heute einige grauhaarige Besucher mit leuchtenden Augen und wippendem Kopf zu entdecken, die seit dem Ursprung von der Idee und Musik Magmas fasziniert sind. Die Geschichte wird zwar nicht aktiv weitergestrickt, doch die Fäden werden beieinander gehalten, indem die "alte" Musik wieder und wieder inszeniert und aufgeführt wird. Zudem fügen Magma einige wenige neue Songs in das Kobaia-Konzept ein, die zwar nicht mit der grandiosen Qualität der frühen Werke gesegnet sind, aber durchaus magmaeskes Format haben. Der Mythos lebt, die Musik erfährt - nicht zuletzt auf CD - eine neue Begeisterung, nicht zuletzt weil der Gedanke und die Idee der Philosophie um Kobaia so modern und aktuell ist, wie nie zuvor.

Magma ist glühend-flüssige Gesteinsschmelze in der Erdkruste und im oberen Erdmantel. Eine gefährliche Materie, die alles in ihren Bann schlägt, was sie berührt. Durch nichts aufzuhaltende eruptive Kraft, Vulkanausbrüche und brodelnde Feuerseen voll phlegmatischer Gewalt. Glutheiße, gasdurchtränkte Silikatschmelze des Erdinnern.

Früh wurde Magma zum Kult (mit allen positiven und negativen Nebeneffekten). Die Parallelwelt Kobaia wurde für die Musiker und Anhänger stets greifbarer und realer. Die erst vage sciene fiction wurde bis zum kleinsten Detail durchkonstruiert. Eine eigene Sprache, das Kobaianisch, das sich wie eine rückwärts gesprochene Melange aus deutscher, baltischer und slawischer Sprachen artikuliert, wurde von Vander entwickelt. Große Ähnlichkeit fällt mir dabei zu den "Reden" von Hynkel, der Hitler-Parodie aus dem Film "Der große Diktator" von Charlie Chaplin auf. Die Worte klingen hart beginnend und abbrechend und fügen sich nicht in ein geschmeidiges Sprachgefüge, wie es lebendige Sprachen, die sich über hunderte und tausende von Jahren entwickelt haben, tun. Die Musiker bezogen sich selbst dadurch ein, dass sie sich kobaianische Namen zulegten. Christian Vander wurde zu Zebehn Strain De Geustaah (auf 1001° Centigrades, dem zweiten Album nannte er sich Theius Bingöh).
Weitere unaussprechliche Namen sind Stöht Wurdah Melekaahm, Stündehr, Stöht Ürgon, Wurd Gorgo, Klotz Zaspiaahk, Kahal Negürmüraaht, Thaud Zaia oder Sihnn Dae Weless.
Doch die Sprache wollte nicht zu Kriegen aufrufen, wie es Hynkel beziehungsweise Hitler getan hatten. Kobaianisch entwickelte sich, um dem Fremdwerden von dieser Welt mit ihrer asozialen Kultur Ausdruck zu verleihen. Ob Flucht von diesem Planeten eine ideale Lösung ist, mag dahingestellt sein. Die Geschichte erzählt sich als Flucht und findet in Kobaia den Planeten, der zu wahrer Heimat wird.
Schon in den siebziger Jahren hatte sich Kobaia und damit Magma zu einem Mythos entwickelt, der mit erschreckender Ernsthaftigkeit praktiziert wurde. Die Fiktion wurde für viele Anhänger zur gewünschten Realität, die Welt Kobaia gedanklich weiter ausgebaut. Die Geschichte passte gut in die Zeit und gab Fans Zutrauen und Halt. Erstaunlich festzustellen, dass Magma heute nicht nur musikalisch, sondern auch mit der Geschichte stranden würden, belächelt und abgetan wie so viele abstrakte Kunst im allgemeinen und in der Musik im besonderen, die mehr als die Tageslaune bedient - würde die Band in den heutigen Tagen ihren Ursprung nehmen.
Musikalisch wurde die Story nicht gerade komerziell umgesetzt. Plattenfirmen, die sich durch Magma großen Gewinn versprachen, sprangen nach finanziellen Verlusten schnell ab und Magma, sprich Christian Vander, musste neben dem Weitererschaffen der Geschichte um Kobaia neue Plattenfirmen finden. Und so, wie die siebziger Jahre vergingen, ging entmutigt erst einmal auch Magma. In den Achtzigern stellte Vander die Band mit neuen Musikern vor. Funk und Disco Pop mit englischen Texten beherrschte die Veröffentlichungen, während in den Konzerten der "alte", "kobaiainsche" Geist aufrecht erhalten wurde. Doch erst einmal zurück zum Beginn einer Band, die sich bis heute einen Fankreis erhalten hat, der ihr, ihrer "Zeuhl"-Musik und dem "Tehsu Hamtaak" - dem fortdauernden Moralspiel - wie Vander die Magma-Musik charakterisiert, andächtig und ausdauernd huldigt.

Christian Vander wird 1947 in Paris geboren. Sein Vater, Krimineller und polnisch-baltischer Zigeunerviolinist, hat wenig Einfluss auf ihn. Durch seine polnische Mutter erhält er tiefgreifende Anregungen (allein die Kenntnis beider, polnischer wie französischer Sprache, dürfte ein entscheidender Punkt für das spätere Kobaianisch gewesen sein), die sich in seiner Musik niederschlagen. Bartok, Strawinsky und Orff gehören zu den musikalischen Eindrücken, die ihm seine Mutter vermittelt. Seine Mutter ist drogenabhängig, auch dieser Einfluss bleibt nicht aus, mit 15 Jahren wird er - durch Unterstützung der Mutter - an die Spritze gebracht. Regelmäßig verkehren amerikanische Jazzmusiker in Vanders Elternhaus, die ihn in den Bann ihrer Musik schlagen. Chet Baker schenkt dem Dreizehnjährigen das erste Schlagzeug und Elvin Jones (u.a. Larry Coryell, Miles Davis, Joe Farell, Insect Trust, Harry Lookofsky, Oregon, Wayne Shorter) wird sein wichtigster Lehrmeister. Die größte Faszination aber übt ein anderer Jazzmusiker auf Vander aus: John Coltrane. "Als ich Coltrane zum ersten Mal hörte, konnte ich anschließend einfach nichts anderes mehr hören. Es gab keine andere Musik, die für mich zählte. Immer, wenn eine neue Coltrane-Platte erschien, war es wie ein Quell neuen Lebens".

1967 stirbt John Coltrane und für Christian Vander bricht eine Welt zusammen. Erst als er Magma gründet, fängt er sich und versucht nun, Coltrane in eigener Musik zu begegnen. Er sagte sich, dass Coltrane nicht all diese Musik gemacht habe, damit man sich dem Tod überlässt. Die Musik war für das Leben gemacht. Also musste man weiterleben. Er war in Turin, als er am Morgen dieses einen Tages aufstand. Er hatte den Eindruck, alles in der Stadt würde leuchten. Er rief seine Verlobte in Mailand an und sagte ihr, dass er nach Paris fahren würde. "Wir haben uns schrecklich geliebt, ich reiste ab, aber ich weiß nicht, warum".
Magma wurde für Vander an diesem Tag der Offenbarung geboren. Er beschloss, alles aufzugeben und vor allem zu leben. Er hatte das Leben gefunden, das war wichtig. Magma hat immer für das Leben gestanden. "Als Europäer, der verschiedenen kulturellen Strömungen ausgesetzt ist, ist meine Situation gegenüber Coltrane völlig verschieden. Mein Großvater war ein Zigeuner-Geiger mit goldenen Ohrringen. Meine Musik kommt tief aus den polnischen und baltischen Wäldern, aus Voodoo-Musik, wie ich überhaupt jegliche Exorzismus- und Trance-Musik liebe Sie ist verwurzelt in deutscher Musik, in der russischen Oper, in "Universal"-Musik und ebenso in tragischer Musik. Aus diesen Gründen ist meine Musik von derjenigen Coltranes verschieden, dennoch sind wir geistig verwandt".
Magma ist zwischen zwei Polen aufgespannt; auf der einen Seite steht eine animalische Brutalität, die der von vordergründigem Heavy Metal weit überlegen ist, ein musikalischer Anarchismus, der Gedanken an Teufelsaustreibung und Weltuntergang hervorruft. Auf der anderen Seite steht dem eine formale Strenge und hochgezüchtetete Musikarchitektur gegenüber, die in ihrem rhythmischen Einfallsreichtum Kompositionen von Bartok und Strawinsky wenig nachstehen. Der schier unüberbrückbare Gegensatz von emotional manischen Ausbrüchen und intellektuellem Kalkül bildet eine ständige extreme Spannung, die sich in gewaltigen Eruptionen freisetzt.
Die ersten beiden Alben "Magma" (1979) und "1001° Centigrades" (1971) weisen noch einen beherrschenden Jazz-Einfluss auf. Doch schon hier ist die große Intensität und manische Kreation zu hören, die Magma ausmacht. Und der Jazz bietet nur einen Einfluss, die Rhythmik aller Stücke ist von vornherein von Christian Vander bestimmt, der mit großer Eindringlichkeit und Ausdruckskraft, mit ausgeglichenem Timbre und fulminanter Spieltechnik das Schlagzeug bedient. Herkömmliche Strukturen der Rockmusik scheitern im Vergleich an diesen Alben. Das deutlich konturierte Spiel aller Gruppenmitglieder ist in seiner beeindruckenden Konsequenz und Geradlinigkeit mit moderner Oper, Theatermusik und Chorwerken verwandt. Diese Verwandtschaft bricht stetig auf, scheint urplötzlich Hintergrund für einen Space-Ausflug zu sein, nur um wieder den Eindruck zu vermitteln, auf einer Theaterbühne eine Massentanz-Szene mit Voodoo-Charakter zu untermalen. Hier werden aggressive wie depressive Facetten lebendig gemacht und alle möglichen Abstufungen zwischen epischer Melancholie und sexueller Hysterie zum Klingen gebracht. Die Musik brodelt ständig knapp unter dem Siedepunkt. Energische und vibrierende Musikalität wird mit jedem Ton geboren, dabei bleibt trotz aller Fülle im Klang volle Transparenz stets gewahrt, die Lust am virtuosen Können offenbar, die enorme Dynamik auf hohem Level.
     

Vielen Musikern ging Magma an die Materie. Das Besetzungkarusell drehte sich ständig. Ich glaube, nicht zwei Alben wurden von derselben Mannschaft eingespielt. Nur auf den ersten beiden Alben spielte Francois Cahen mit, er war derjenige, der den treibenden Jazzrock-Anteil mit zu der genialen Jazzrock-Band ZAO nahm, der Band, die er nach seinem Ausstieg aus Magma gründete. Jeff Seffer (auf 1001° Centigrades) folgte Cahen. Die beständigen Festpunkte in Magma waren Christian Vander, Klaus Blasquiz und Stella Vander (Christians Frau). Louis Sarkissian war bis "Köhn Tarkösz" dabei, Teddy Lasry bis "Mekanik Destruktiv Kömmandöh". Andere Musiker tauschte Vander stets nach ein oder zwei Alben aus, um seine Idee von Magma am Leben zu erhalten, Magma seine Band, sein Projekt, seine Musik bleiben zu lassen. Eine vollständige Besetzungsliste aufzuführen, ist schier unmöglich, da auf einigen Alben nur die kobaianischen Namen angegeben worden sind und eine sichere Zuordnung (zu den "terristrischen" Namen) nur den absoluten Hardlinern problemlos möglich sein dürfte.

Christian Vander über den Magma-Gesang: "Die Schreie waren ein Kontrast zu all der Musik, die damals angesagt war. Pink Floyd und diese Leute, die meiner Meinung nach einfach träumten. Bei Musik sollte man nicht einschlafen oder träumen, sondern man sollte plötzlich bereit sein, etwas anderes zu spielen. Also braucht man ziemlich heftige Kontraste, damit die Leute wieder aufwachen. Die Leute waren damals alle irgendwie lethargisch. Das war nicht groß überlegt, wir fühlten uns wirklich danach, sowas zu tun".
Unter dem Pseudonym "Univeria Zekt: The Unamebles", das aus rechtlichen Gründen gewählt wurde, spielten Magma ein hervorragendes Jazzrock-Album mit englischen Texten ein. Der Gourmet, der diese Platte natürlich dringend braucht, darf auch eine zweite nicht entbehren, die zu bekommen nicht ganz leicht sein dürfte: "Tristan Et Yseult" (Filmmusik, eingespielt von Klaus Blasquiz, Stella Vander, Jannek Top und Christian Vander). Chronologisch betrachtet wäre dies die dritte Magma-LP (sie wurde aber unter dem Namen Christian Vander veröffentlicht und wird nicht als dritte Magma-Platte gelistet).
Hier finden sich die treibenden Vokal-Orgien unter Führung von weiblicher und männlicher Stimme ausgezeichnet arrangiert. Mit animalischem Instinkt intoniert, brechen die Singakrobaten ein neues musikalisches Feld auf. Piano, Bass und Schlagwerk bauen ein modifiziertes, im Tempo wechselndes Monoton ohne jegliches Break und das dies alles nicht beachtende Piano zerlegt seine Saiten in schnell auf der Stelle tretenden und doch melodischen Attacken. Eine Explosion. Jede Seite der Platte ist in sechs Segmente unterteilt, die ohne Pause durchlaufen. Viel Melodie mit schönen und harmonischen Gesangparts über dem wahnwitzigen Donnerbass und den manischen Percussions und Schlagzeug.
Vander: "Ich bin immer auf der Suche oder horche nach einer neuen Melodie. Ohne Melodie geht es nicht. Von der Melodie aus kann man alles finden, sogar sie nicht zu spielen, und dann umspielt man sie, aber man braucht eine melodische Leitlinie, sonst wird das Mathematik, keine Musik. Der Gesang hat Vorrang. Ich hab immer unabhängig vom Schlagzeug komponiert. Ich habe nie im voraus gewusst, wie ich Stücke von mir begleiten würde."
1973 erschien "Mekanik Destruktiv Kömmandöh". Die minimalistischen Strukturen zeigten sich verstärkt. Vokale Impressionen, hauptsächlich von Piano, Bass und Schlagzeug illuminiert, zeigten den Vergleich zu Theater- und Neuer Musik. Von der Urbesetzung waren neben Vander nur Sänger Klaus Blasquiz übrig geblieben, dessen tiefe, volle Stimme einen effektvollen Kontrast zu Vanders schrillen und markerschütternden Schreien lieferte. Giorgio Gomelsky, ihr einflussreicher Manager, nahm mit dieser Platte den Angriff auf den internationalen Musikmarkt vor. Die Band hatte in Frankreich eine breite Anhängerschaft gefunden, Erfolg stellte sich ein.
A&M wurde auf Magma aufmerksam und nahm die Gruppe unter Vertrag. Jährlich sollten zwei Alben abgeliefert werden, ein Zyklus, der 1977 abgeschlossen sein sollte, aber nie vollendet wurde. Schon nach dem kommerziellen Flop von "Köhntarkösz", dem folgenden und meinem persönlichen Lieblings-Album von Magma, war A&M nicht mehr bereit, das ehrgeizige Unternehmen bis zum Ende durchzuziehen. Der finanzielle Erfolg war überschätzt worden, Band und Plattenfirma trennten sich nach alsbald auftretenden Schwierigkeiten. Freuen wir uns, dass Magma sich einem kommerziellen Sound (noch) nicht geöffnet, sondern eine intensive und überaus kraftvolle Platte abgeliefert hatte.
Vander: "Im Allgemeinen schreit man, weil man nicht zufrieden ist. Das kann als Haß interpretiert werden, aber in den Schrei mischt sich viel eher Verzweiflung."
Auch Magma wurde von Problemen geschüttelt, die dazu führten, dass die Band sich vom Kobaia-Zyklus abwandte. Die Musik lebte weiter, 1975 folgten mit "Ihedits" und "Live" gleich zwei LP, die mit gleichgebliebener Dynamik und derber rhythmischer Schönheit die musikalische Unverletzlichkeit der Band zeigten.
Vander: "Ich habe mal geschrien: ja zu allem, nein dem nichts. Ich denke, es gibt Leute, die weiterkommen wollen, die intensiv leben wollen, und solche, die dazu erzogen worden sind, das nicht zu hören, was gehört werden sollte. Alles muss gehört werden, danach kann man vielleicht seine Wahl treffen."
"Köhntarkösz" bestand vor allen Dingen aus dem zweiteiligen Titelsong. Die ausgedehnten impressionistischen Piano- und Vokal-Harmonien schwangen sich über jeweils eine Viertelstunde. In offener und schier endloser Stetigkeit wälzten sich über dem furchtbaren, überaus intensiv gespielten Bass manische Piano-Momente zu einem Inferno, das sich über melancholische und überdrehte Passagen in ein depressives Koma steigert. Am Ende steht eine tiefe "Rah"-Stimme im Raum, mächtig, kraftvoll, beängstigend. "Ork Alarm", in fast klassischem Gewand und seltsam ruhiger Stakkativität, ist ein weiterer Teppich für Vanders düsteren Sprechgesang, oder besser Rufgesang, denn so kann ich die herausgestossenen Wort- und Ton-Brocken am ehesten deuten. Mit "Coltrane sündia" endet das Album lyrisch, jazzig, verliebt. Diese wirklich sanfte Annäherung an ein coltraneskes Thema ist ein dichtes instrumentales Geflecht aus Interpretation und Improvisation, nah an musikalischer Wahrhaftigkeit, fern jeglicher Konstruktivität. Ein kurzes Stück, das eindringlicher nicht sein könnte. Prägnant, abstrakt, geradlinig und von einer Tiefe, die nur noch verwundern macht.
Die Vokalarbeit von Stella Vander, Christian Vander, Jannick Top und Klaus Blasquiz ist dabei sehr eindringlich. Fast scheint es, als würden verängstigte Tiere schreien, die an einen Abgrund getrieben werden und nun den nahen Tod vor Augen haben. Erschütternde, verblüffend harmonische Schreie, die sich zu einem Chor fügen, der alles gibt und den Schwung der Musik vermehrt. Vander: "Beim Komponieren versuche ich, offen, verfügbar zu sein, um die Musik in mich reinzulassen und ich versuche, das, was ich da höre, zu rekonstruieren. Ich sage mir nicht, na, ich werde mal versuchen, so was am Klavier zu komponieren. So bin ich nie vorgegangen. Ich lasse die Musik kommen. Gut, es gibt ab und zu so alltägliche Stücke, wenn ich am Klavier sitze und nach etwas suche. Aber ich ziehe die Musik vor, die zu mir kommt, und ich bin der Empfänger..." "Magma Live" schien zur letzten Hinterlassenschaft einer sich endgültig auflösenden Gruppe zu werden. Mit Didier Lockwood an der Violine sprengte die Gruppe noch einmal mit immer neuen rhythmischen Verschiebungen die zugrunde liegenden Takteinheiten. 1976 gab es Magma so gut wie nicht mehr. Trotzdem wurde "Üdü Wüdü" produziert, eine Platte, die laut Vander eher ein Extrakt aus verschiedenen Stücken ohne richtigen Abschluss ist. Als Neuanfang gedacht wurde sie nicht mehr als ein Übergangswerk. Der Sound ist nicht zufriedenstellend, es gab Probleme beim Abmischen und überhaupt zu wenig Melodie. Das großartige "De Futura", ein düsteres, achtzehnminütiges Werk, spricht jedoch gegen Vanders Kommentar. Von Jannik Top komponiert, der Bass, Syntheziser, Keyboards und Fret-Cello spielte und sang, mit Christian Vander am Schlagzeug und Klaus Blasquiz (Gesang), wurde ein Power Trio intoniert, dass keineswegs traditionell klingt. Der Donnerbass bestimmt jeden Augenblick des Werkes. Ein langes Syntheziser-Solo, wie von Gitarre intoniert und eine vokale (chorale) Variation des "Soleil d´Ork" lassen das Stück in eine Unendlichkeit fließen, die von erhabener Schönheit ist. Die Intensität ist um so beeindruckender, als die Kompositionen mit totaler Konzentration gearbeitet wurden, ohne freie Improvisation (Klaus Blasquiz nannte das Masturbation).
"Attahk" (1978) war das letzte Studioalbum im bekannten musikalischen Geist. Doch auch hier sind einige Songs nur skizzenhaft notiert, scheinen Schablonen für Werke zu sein, zu denen Magma aufgrund interner Schwierigkeiten nicht fähig war. "The last seven minutes" im neuen rhythmischen Gewand hatte großes Gefühl für Funk und Soul. "Spiritual" gab seinem Namen alle Ehre. Die angedachten Veränderungen waren überdeutlich. Die vokale und chorale Harmonie ist von gleicher Schönheit und animalischer Eleganz, nur liegt das musikalische Feld anders. Vermehrt geben leise und harmonische Melodien den von Piano durchtränkten Songs Charakter, weniger depressiv und eher fröhlich und übermütig erscheinen die Stücke. Verspielt und wie von Kinderhand gemalt klingen plötzlich die bisher nur als komplex und abstrakt bekannten Vander-Kompositionen. Das tat der musikalischen Verführung keinen Abbruch, aber es verblüffte. Nicht nur die Welt hatte sich geändert, auch Kobaia war nicht gleich geblieben. Vander meinte, er hätte Kobaia vergessen wollen und die Band liebend gern aufgelöst, weil er den Eindruck hatte, nur noch vor erstarrten und toten Menschen zu spielen, die an musikalische Hingabe nichts verschenkten, sondern nur dem Kult huldigen wollten. Er fühlte sich gefangen. Die siebziger Jahre gingen zu Ende, Magma verschwand aus der musikalischen Landschaft.
Viele Musiker, die nach dem Ausstieg von Magma eigene Bands gründeten, führten die Zeuhl-Musik, wie der Magma-Sound genannt wurde, weiter. Weidorje und Paga seien angeführt. Andere Musiker gründeten Eskaton oder Musique Noise und etliche andere Bands, die dem musikalischen und philosophischen Geist Kobaias und Magmas nacheiferten. Magma selbst gab es immer einmal wieder. Mal nannte Vander seine Band auch Offering. Doch nie wurde die Musik wieder so erfolgreich. Disco Pop und aufgesetzter Funk folgten, ein Kritiker nannte es New-Age-Free-Jazz für Andreas Vollenweider-Enthusiasten, stellenweise erfrischend, streckenweise unerträglich. Uninspirierte Alben, die hier nervten und dort langweilten. Zwar gaben Magma erfolgreiche Konzerte, die an die frühen Alben erinnerten, doch die neuen Alben blieben ohne große Resonanz. Vander musste leben und Geld verdienen, als Musiker konnte er das am besten mit Plattenaufnahmen, doch die blieben hinter den Wünschen seiner Fans weit zurück. "Merci" lieferte frischen Funk, jazziges, meditatives, souliges und eine Spur alter Magma-Tage lag in der Luft. "Offering", ein Doppelalbum, war als Hommage an Coltrane konzipiert. Die apokalyptisch anmutenden Kehl-Exerzitien auf aggressiv-kraftvoller Rhythmik gab wenig poppiges her. Sehr melodramatisch und mit raffinierten harmonischen Auflösungen durchweg vom Scatgesang begleitet, verarbeitet Vander seine eklektischen Einflüsse aus Jazz und Pop.
Doch erst zum Anfang der 90er Jahre gab es wieder einen wirklichen Aufschwung. Das CD-Zeitalter brachte die Reissue-Welle auf Hochtouren, alle Bands kamen in Erinnerung, nicht nur Fans, sondern auch Promotion-Firmen sprachen von Musik, die wohl keine ursprüngliche Chance im Techno-Zeitalter gehabt hätten. Nicht nur alle originalen Alben, sondern auch diverse Live-Konzerte, die vorher nicht veröffentlicht worden waren, wurden auf CD und Video aufgelegt. Die Fans tauschten ihre LPs gegen CDs ein, bekamen Bonussongs, booklets mit Stories und wieder Lust auf Kobaia. Vander hörte eines Tages eine Magma-Coverband, die ihn dermassen überzeugte, dass er die komplette Mannschaft (abgesehen vom Schlagzeuger) für eine Reinkarnation von Magma anwarb. (Die Coverband namens One Shot spielt auch eigene Stücke im Zeuhl-verseuchten Jazzrock und hat zwei CDs veröffentlicht.) In dieser Besetzung war es Christian Vander wieder möglich, die frühen Stücke live zu spielen. Heute sind Magma-Konzerte wieder großangelegte Meisterwerke, die den kompletten dramatischen Magma-Stücken ursprüngliche Kraft abgewinnen. Mit Antoine Paganotti als Sänger und Pianisten ist gar der Sohn von Bernard Paganotti, dem früheren Bassisten von Magma (1980) dabei. 1998 wurde in der neuen Besetzung eine Single aufgenommen, die zwei kurze aber neue Songs im alten Stil präsentiert. Zudem wurden die hervorragenden Konzerte der alten Alben in der neuen Besetzung aufgelegt, die vollständige "Lyrics" (auf kobianisch) anbieten. Die Geschichte hat also kein Ende, wenn auch wenig dafür spricht, dass Vander´s Kreativität dem kobaianischen Zyklus neue Alben widmet. Der Geist lebt weiter, in ausgezeichnet technischer Möglichkeit inszeniert, musikalisch und optisch. Und dennoch - es ist Zeit, an Kobaia weiterzubauen. (Unter Verwendung von Textauszügen von Bernd Gockel.)


Bastelanleitung für MAGMAs magischem Zeichen:

1. Man zeichne einen Kreis K1 mit beliebigem Radius.
2. Die Kreise K2, K3 und K4 haben den gleichen Mittelpunkt, aber verschiedene Radien: Radius K3 = 3x Radius K1, Radius K2 = 2x Radius K1, Radius K4 = ¼ Radius K1.
3. Durch den Mittelpunkt M1 gehen die senkrecht aufeinander stehenden Linien A und B.
4. Die Gerade zwischen den Schnittpunkten von A und B mit K1 schneidet C in M2, der gemeinsamer Mittelpunkt der nach unten versetzten inneren Kreisbögen ist.
5. Der mittlere Spalt wird von den Tangenten an K4 gebildet. Das ganze sollte man möglichst aus einem Stück Bronze oder Kupfer heraus arbeiten. Viel Spaß!

VM



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