Magenta "home" (F2 Music 2006)

Progressive Rock ist heute längst nicht mehr die Weiterführung dessen, was Mitte der 60er Jahre seine ersten zarten Blüten trieb. Mal abgesehen davon, dass es den Namen "Progressive Rock" noch gar nicht gab, der verbreitete sich allmählich in der ersten Hälfte der 70er. Als frühesten Auftritt des Namens erinnere ich mich an Johnny Winters erstes Album aus dem Jahr 1969, "The Progressive Blues Experiment", ein phänomenales Werk. Nach heutigen Prog-Maßstäben (…), "nur" ein Bluesalbum - und nix progressiv...
Spätestens seit 1969 und etwa bis 1974 wurden stetig experimentelle, abenteuerliche und außergewöhnliche LPs veröffentlicht, weltweit gibt es eine große Vielzahl Veröffentlichungen, die man unter dem Banner Progressive Rock (oder Artrock, wie ich es früher kannte) schubladisieren kann. Progressive Rock hatte viele Gesichter und faszinierte durch die erheblich unterschiedlichen Ideen und Klangwelten. Soft Machine, Gentle Giant, King Crimson, Van Der Graaf Generator, Mahavishnu Orchestra, Frank Zappa, Yes, Genesis (keine Band klang wie die andere, von ihren Werken ging und geht noch heute so große Faszination aus, dass Bands sich gründe(te)n, nur um ihre Variation des Vorbildes zu finden) sind nur einige Säulen des riesigen Genres (dazu die vielen weniger gut bekannten Bands wie etwa Premiata Forneria Marconi, Jonesy, SBB, Esperanto, Sloche, Roberto Colombo, Cartoon, Area, Banco, Fermáta, Collegium Musicum, um nur einige wenige zu nennen). Im Laufe der Zeit veränderte sich Progressive Rock. Doch statt, dass die Vielfalt der ersten Jahre ausgebaut wurde, schrumpften die experimentellen Spitzen ein. Kein Wunder, dass Fans sich abwandten und den verkümmernden Rest belächelten. In den 80ern wurde die abgemilderte, leichte Popvariante namens Neoprog aus der Taufe gehoben; in den 90em, gewiss auch durch das Aufkommen der CD und die damit einhergehende Neuauflage alter "Klassiker" auf derselben angeregt, bekam Progressive Rock neuen Aufwind, der bis heute anhält, sich in den Jahren aber längst wieder gewandelt (und vereinfacht) hat.
Progressive Rock ist heute zwar immer noch ein ungeliebtes Kind, ein Schimpfwort, Dumpfbackenkram ewig Gestriger, aber mittlerweile findet es als zu "Prog" verkürzter, jedoch durch seine Stetigkeit in gewissem Sinn akzeptierter Stil der populären Musik einen leidlich ertragenen Platz in Gazetten und CD-Shops (leider heißen die heute nicht mehr Plattenläden!!!). Und so wie der Name auf Prog verkürzt ist, ist es auch die Musik. Vielfalt ist längst verloren gegangen. Viele gute Bands, wie Glass Hammer, The Flower Kings oder Magenta, die heute die Szene unterhalten, klingen sehr ähnlich, basteln ähnliche lange Songs mit Mordsmassen an Keyboardorgien. Mal abgesehen davon, dass das kein Stück progressiv ist, ist das auch kein Progressive Rock. Es ist nicht mal Rock. Es rockt nicht. Es ist kunstvoll arrangierte Popmusik mit der Besonderheit, immerwährend lange Tracks erfinden zu müssen und jedes neue Album wie das alte klingen zu lassen. Musiker im heutigen Progressive Rock müssen sich wie Reproduzenten vorkommen, wie Eunuchen, die nur nachempfinden und nichts Eigenes, Freches, Wildes spielen dürfen, ohne in die Gefahr zu geraten, ihr Restpublikum zu verlieren. Wir, das faule und gierige Publikum, wollen immer noch einmal das immer Gleiche mit einem neuen Gitarrensolo und bombastischem Keyboardkitsch, und nichts, was anders klingt. Wahrscheinlich wird das, was Progressive Rock eigentlich ausmacht, mit seiner Generation sterben und als Randanekdote in die Geschichte der Musik eingehen, von Professoren mit Fliegen am Kragen erläutert und in Form von "originalen Reproduktionen" in Heimatmuseen zu sehen sein, wo dicke LP-Regale neben Tropfkerzen, verrückten Klamotten und bunten Postern komische Gefühle wecken werden. Der Großteil an Progressive Rock ist längst in unseren privaten Museen versteckt, den heiligen Hallen mit Röhrenverstärkern und fetten Fernsehern für die wachsende Anzahl DVDs, derer sich Bands verpflichtet sehen. Ich wünschte, grandiose Vielfalt und wilde Heavyness in aller Experimentierfreudigkeit würden wiederkehren und zu neuer Musik finden.

Ist es ungerecht, das für ein Album zu schreiben, das eigentlich ansprechend und faszinierend ist? "home" ist ein umfangreiches Konzeptwerk, das als Special Edition gleich auf 2 CDs angelegt ist. CD1, "home" betitelt, ist eine symphonische Großtat mit ausführlicher Geschichte, deren Lyrics im Booklet abgedruckt zu lesen sind. Eine knapp 70-minütige Reisegeschichte, nicht nur durch die USA. CD2 ist die "New York Suite" in 5 Teilen, noch einmal 40 Minuten Musik, die konkret an Yes und alten Progressive Rock erinnert, wenn nicht gerade Christina, die Leadsängerin des Unternehmens, ihre modern angelegten, leicht und eingängig klingenden Gesangsspuren begeht. "home" ist ungemein melancholisch und leise, von großer Zurückgenommenheit und zartem Ausdruck, der zwischen den 15 Tracks schon mal kräftig ausbrechen und weite Instrumentallandschaften entstehen lassen kann. Die "New York Suite" ist nicht unbedingt weniger textlastig und kein Stück weniger gefühlvoll und schön erzählt, aber in der musikalischen Sprache kräftiger und deftiger, ohne - keine Angst - die typischen Prog-Pfade zu verlassen.
"home" ist ein sehr schönes Werk einer ausgezeichneten Band, nicht weniger.

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VM



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