KRAUTROCK Classics "The Best Of KRAUTROCK Vol. 1" [DVD] (Aviator Entertainment 2006)

Diese DVD ist rundum empfehlenswert. Best Of Krautrock Teil 1 präsentiert einen guten Querschnitt durch das Frühsiebziger Rockprogramm (west-)deutscher Lande. Stilistisch ist alles dabei, von Avantgarde über Psychedelic, Progressive, Jazzrock, Electronic, Symphonic und Heavyrock. Die Facetten sind so vielseitig, wie die beteiligten Bands. Schön, dass "Vol. 1" auf dem Cover steht, auf weiteren Folgen der als Reihe angekündigten Krautrock Classics wird hoffentlich ebensoviel spannendes Material enthalten sein, wie hier.
In den Achtzigern meinte der frische Nachwuchs, der dieserart Liedgut über alles gründlich hasste, die Typen, die dies hören würden, seien keine Alternativen, sondern alte Naive. Krautrock wurde zum Schimpfwort. Aber die Achtziger haben sich überlebt und erstaunlicherweise findet der heutige frische Nachwuchs, dass Krautrock schnöde gesagt Kult sei. Und nicht nur der Nachwuchs meint das, sondern auch die alten Naiven, deren Plattensammlung seit Beginn der 90er Jahre schon etliches Früh-Siebziger Krautrock-Material auf CD als Zuwachs bekommen hat.
Cuneiform Records, Garden Of Delights, Moonjune Records und weitere Labels veröffentlichen Konzertaufnahmen auf CD, die damals im Radio liefen. Radio Bremen hat sich einen Namen als gut hütender Fundus-Inhaber gemacht, von dem noch so manche grandiose Produktion zu erwarten ist.
Auf Arte und ähnlich ansehbaren Fernsehkanälen kann man hin und wieder Videoaufnahmen diverser Krautrockbands sehen, jetzt aber veröffentlicht die Aviator-Entertainment GmbH mit dieser ersten DVD etwas ganz Besonderes. Ungeschnitten präsentieren verschiedene Bands live gespielte Songs aus dem Beat Club. Bild- und Tonqualität sind sehr gut, die Aufnahmen sind neben Dolby Digital 2.0 sogar im Dolby Digital 5.1 Verfahren enthalten, wobei ich mich frage, wie letzteres gemixt worden ist. Es gibt ein informatives Booklet, das jeder enthaltenen Band einen kurzen Abschnitt widmet. Auf der DVD sind neben den einzeln anwählbaren, aber nur in Gesamtzeit laufenden Tracks eine 42-minütige Dokumentation (mit schrecklichem Beginn) aus dem Jahr 1975 mit Bands wie Pell Mell, Kraan, Tangerine Dream, Hoelderlin und Atlantis sowie ein 15-minütiges Interview mit Lothar Meid aus heutiger Zeit enthalten. Zusätzlich sind Biographien und Diskographien samt originalen Covern der beteiligten Bands auf der DVD zu entdecken. Alles zusammen sind das 171 Minuten Musik und Dokumentation. Extra gibt es noch Trailer für andere Krautrockprodukte (Birth Control, Die Vagabundenkarawane). Amon Düül II machen den Auftakt mit "Between The Eyes". Der Song stammt vom 1972er Album "Carnival in Babylon", ist aber in einer bereits 1970 live gespielten, sehr schönen Version enthalten. Can folgen mit "Paperhouse", danach gibt es einen krassen Wechsel zu Frumpy. Die phänomenale Rockröhre Inga Rumpf in Aktion zu sehen, ist schon mal beeindruckend. Die Dame weiß ihre wohl gewachsenen Stimmbänder passabel zu nutzen!
Die Hardrocker Lucifer's Friend daraufhin kommen mit Waldhorn und schweren Orgelattacken. John Lawton (später Uriah Heep) hat eine etwas gewöhnungsbedürftige Frisur, schon witzig, die Bands nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Zum einen ist die Choreographie mancher Aufnahme sehr ansehnlich, zum anderen kann man die heute nicht mehr so ganz knackfrischen Damen und Herren in aller frischen Jugendlichkeit betrachten, was aus den verehrten Helden noch mal ganz normale Kids (junge Naive) macht.
In manchen Songs ist als Ansagerin eine junge Lady mit schwindelerregend kurzem Rock zu sehen, die ein paar Worte über die Bands, und im Fall Passport über die Spielweise mehrerer Instrumente verliert.
Epitaph spielen "Early Morning", Birth Control "The Work Is Done". Nach den beiden Hardrockbands folgen die Jazzrocker Passport mit dem jungen Udo Lindenberg am Schlagzeug. Der 1971er Auftritt zeigt die Stärken der Band, die in den folgenden Jahren fabelhafte Jazzrock-Alben veröffentlichen sollte, mit deutlich technischeren Schlagzeugern als Lindenberg (er macht seine Sache jedoch sehr gut). Mit Guru Guru geht es in verschrobene Psychedelic Gefilde, "Oxymoron" ist ein grandioser Track, der aus dem Wechsel von hartem Rock und tiefen Einbrüchen in die Stille lebt. Mit Popol Vuh ("Bettina") und Kraftwerk ("Rückstoss-Gondoliere") folgen Avantgarde-Tüftler, die aus Ethno-Klängen, Electronic und psychedelischen Sounds verwirrende "Songs" bastelten. Vor allem Kraftwerk ist ungewöhnlich und mit späterem Material nicht ansatzweise zu vergleichen.
Embryo treiben sich in "Calcutta Streets" herum, das Videomaterial ist teilweise auch in Kalkutta mitgeschnitten worden und stammt aus dem Film "Die Vagabundenkarawane", aus dem Soundtrack dazu wurde später "Embryos Reise". Leider ist der Ausschnitt nur kurz, nach 4 Minuten kommen Novalis mit dem fast 17-minütigen Song "Sonnenwende", dessen Studioversion die 2. LP-Seite der LP "Brandung" füllt. Flötist und Sänger Fred Mühlböck nervt zuerst mit seiner Aufforderung an das Publikum, mitzuklatschen. Aber das gibt sich und er beginnt, Flöte zu spielen, was jedoch nicht zur Harmonie der Keyboards passt und eine böse Dissonanz präsentiert, die aber sofort aufgefangen wird. Hin und wieder sind zwar ein paar kleine Spielmacken zu erkennen, das fällt aber nicht besonders negativ ins Gewicht. Dass die Liveaufnahme überhaupt zu sehen ist, wiegt alle Fehler auf. Beeindruckender Song, gute Performance, schön, das Werk live hören und sehen zu können.
Witzbold Lothar Meid folgt mit dem sympathischen Song "Helden aus dem Untergrund", der musikalisch mit seiner Poplastigkeit aus dem Rahmen fällt. Eloy fahren schwere Geschütze auf, der 1978er Track, in der Sendung Poprock gespielt, hat jedoch nicht den Bombast wie frühere Bornemann-Kompositionen. Als letzte Band folgt Jane mit "Expectation". Die Symphonic Hardrocker spielten den Song 1977 in "Rockpop".
Ich war so in die DVD versunken, dass ich mich wie im Kino nach einem spannenden Film strecken musste und nicht in die Wirklichkeit zurück wollte. Wie gesagt, nur zu empfehlen.

aviator-entertainment.com
VM



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