Kampec Dolores "Earth Mother Sky Father" (Poseidon Records/Musea 2005)

Ungarischer Worldmusic Rock auf einem japanischen Label? In Zeit globaler Erwärmung kommen sich alle etwas näher. Vielleicht gibt es eines Tages eine Band mit einem russischen Eskimo (voc), nigerianischem Trommler, einem chinesischen Gitarristen und einer vorpommernschen Bassistin (der Nachwuchs hier weiß mittlerweile, das zwischen 1969 und 1974 die besten Platten erschienen sind…)?!? Hoffentlich dauert es bis dahin nicht mehr lange.
Doch indes der weltweite Nachwuchs zu eigenen Qualitäten heranreift, wird es so manche interessante Veröffentlichung geben. Die Kanadier Spaced Out veröffentlichen gerade eine DVD, die mit einem einzigen Wort beschrieben ist: Berauschung!
Kampec Dolores halten sich musikalisch ganz woanders auf. Sie räubern im ungarischen Folkmix, untersetzen ihre Songs mit einem duften und flotten Groove, dessen schwere Basslinien sofort aufhorchen lassen. Gitarrist Hajnóczy Csaba, der auch für Samples steht, hat einen Hang zu schrägen Harmonien. Seine solistischen Beiträge sind kurios und witzig.
Sängerin Kenderesi Gabi, die nur wenige Pausen hat, besteht das umfangreiche Programm mit Bravour. Ihr klares, sauberes Stimmorgan lässt sich von keinen noch so ausgefeilten Harmonien irritieren und kann lange Töne über auch ausgefallen bewegte Motive halten. Ihre Stimmführung ist äußerst sicher, der Klang ihrer Stimme angenehm, größter Vorteil jedoch ist die Modulationsfähigkeit ihrer Stimmbänder, es fällt ihr nicht schwer, schnell und präzise in den Tonlagen zu springen. Dahinter steckt gewiss eine lange Ausbildung; allein, die Natur hat sie gesegnet, und nicht nur mit Stimme.
Grencsó Hu steht für die "Verjazzung" der Folkmotive. Ungarn, kulturell und politisch in den letzten Jahrhunderten stets und immer wieder überspült, hat eine Folklore, die sich aus allen Folkloren Europas und des nahen vorderen Orient speist. Und ein breiter Auszug daraus findet bei Kampec Dolores zu modernem, rockgeprägtem Ausdruck. Die Blasinstrumente stehen für die Melancholien, den Jazz, das schräge Krächzen und die seufzenden Emotionen. Schlagzeuger Ölueczky Tamás ist als technisch orientierter Schlagzeuger stets aufgeweckt dabei, die eigenwilligen Folksounds mit differenzierten und komplexen Rhythmen abzufedern. Auch er liebt das Melodieren und spielt diverse Extravaganzen, die sich im Kleid von "Earth Mother Sky Father" passabel ausmachen. Der saubere, technisch perfekte Klang seines illustren Spiels hat große Faszination.
Bassist Vajdouich Árpád ist der Ruhepol der Band. Zwar hat er keine Scheu, komplizierte melodische Schlenker oder emotionale Ausbrüche mit Verve und Elan zu absolvieren. Doch seine Natur ist die Ruhe, das Untermauern der Basis. Der Begriff Worldmusic ist ebenso wie Folk nur ein "Matschbegriff", in den alles rein geschmissen wird, was irgendwie nach Buschtrommeln, Hirtenflöte oder Kriegsgesang urbaner Völker klingt. So unübersichtlich der Begriff damit wird, so gut ist er zu gebrauchen. Alles ist Worldmusic.
Kampec Dolores stehen sicher zunächst den Hirtenflöten, die in diesem Vergleich noch gesellschaftlichste Variante. Die Stücke haben viel harmonischen Jazz, urige, mantrische Gesangslinien, monoton aufgepeitschte Instrumentalhexereien, die der Energie eines Voodoo nicht nachstehen, aber auch die Lyrik europäischer Musiktradition und die Harmonie des 21. Jahrhunderts mit allen Einflüssen, die zwangsläufig darin zu finden sind von Rock bis Klassik, von Jazz bis Folk. Kampec Dolores sind nicht einzigartig, aber eigen-artig und merk-würdig. Sie haben eine ganz eigene Art, Songs zu kreieren. Ambiente Sounds finden da statt, aber auch rockavantgardistische Ausbrüche, epische Melancholie und aufgekratzte, verinnerlichte Trance.
Die Qualität der 9 teilweise recht langen Songs ist sehr hoch, der Erfahrungs- und Unterhaltungswert entsprechend. Dieses musikalische Geschenk will nur geliebt werden.

VM



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