Judge Smith "Orfeas - A Songstory" (Masters of Art 2012)

Zuerst: die Rezension dieses Albums von Jochen Rindfrey auf den Babyblauen Seiten gefällt mir (nicht nur) in dem, was Jochen über die Story der Platte schreibt, so gut, dass ich ihn kontaktierte und fragte, ob ich diesen Teil seines Textes für Ragazzi klauen dürfe, was er (der einen interessanten, meinem verwandten Musikgeschmack hat) mir gewährte. Noch einmal die Geschichte des Konzeptalbums in eigene Worte zu fassen, wäre angesichts Jochens umfassender und toll geschriebener Version völlig unsinnig und nur angestrengt. Also, würde Dieter van Gelder sagen, hier ist, vielen Dank dafür, Jochen, Deine tolle Beschreibung: "Orpheus war ein Sänger und Dichter der griechischen Mythologie, der mit seiner Musik die wilden Tiere befriedete und sogar die Felsen zum Weinen brachte. Aus dem Lande Thrakien soll er gekommen sein - tatsächlich aber stammt er aus Potters Bar im englischen Hertfordshire, und heute Abend spielt er mit seiner Band in der Wembley Arena... Diese völlig neuen Erkenntnisse über Orpheus stammen von Judge Smith, einem alten Weggefährten Peter Hammills und Mitbegründer von Van der Graaf Generator (die er aber vor deren Debütalbum schon wieder verließ), und zu hören sind sie auf seiner neuen "Songstory" Orfeas, auf der er eine Art moderner Version der Orpheus-Geschichte bietet.
Das Werk ist in umfangreicher Besetzung entstanden, sieben unterschiedliche Ensembles spielen auf (die allerdings z. T. aus den gleichen Musikern bestehen), vom Streicherensemble bis zur Metalband. Dabei finden sich illustre Namen, allen voran David Jackson, der langjährige Saxophonist von Van der Graaf Generator. Nicht ganz unbekannt sind auch John Ellis, der in den 80er Jahren in Peter Hammills K-Group spielte, sowie Lene Lovich, die in der von Hammill und Judge Smith komponierten Oper The Fall of the House of Usher die Rolle der Madeleine Usher sang.
Judge Smith spricht also George Orfeas, einen Rockgitarristen, der auch im Alter von 55 Jahren und nach über 30 Jahren Karriere nichts von seiner Kreativität verloren hat. Wobei er in den letzten Jahren sich mehr aufs Improvisieren verlegt hat, dank einer zufällig gefundenen, alten Gitarre. Die trägt eine merkwürdige, schlecht zu lesende Inschrift, die Orfeas als "Furry Dice" entziffert. Mit "Furry Dice" legt Orfeas die unglaublichsten Improvisationen hin (grandios gespielt von John Ellis), die er in einem Radiointerview seinem "special brain" zuschreibt.
Mit den Jahren ist Orfeas allerdings etwas gelangweilt vom Musikerdasein und denkt über den Ruhestand nach. Da ist seine Gitarre nach einer Konzertpause plötzlich verschwunden! Frustriert beschließt er, seine laufende Tour abzubrechen und macht sich auf den Weg nach Hause. Vor lauter Aufregung verursacht er einen Unfall, bei dem er ins Koma fällt und sich in der Unterwelt wieder findet. Dort begegnet er einer Frau, die sich als Eurydice vorstellt und ihm eröffnet, seine Muse zu sein und ihm die Gitarre geschickt zu haben, durch die er ihre Inspirationen empfing. Weil er sich nun aber von der Musik abzuwenden begann, wurde ihm die Gitarre "entzogen". Auf sein Flehen hin, ihm die Gitarre zurückzugeben, bringt Eurydice ihn an einen riesigen Tisch, wo Musiker und Komponisten aller Epochen sitzen, von Hildegard von Bingen bis Freddy Mercury, unter dem Vorsitz von Johann Sebastian Bach. Diesen soll Orfeas vorspielen, dann wird über sein Anliegen entschieden. Und ganz wie der antike Orpheus die Herren der Unterwelt mit seiner Musik verzauberte, gelingt es auch George Orfeas, die versammelten Herrschaften umzustimmen. Er erhält Gitarre und Inspiration zurück unter einer Bedingung: wenn er je zurückschauen sollte, wird er Eurydice für immer verlieren. Orfeas erwacht aus dem Koma und stellt fest, dass seine Gitarre auf wundersame Weise unbeschädigt in seinem verunglückten Auto gefunden wurde.
Wie beim "echten" Orpheus geht auch bei Orfeas die Sache mit dem nicht zurückschauen schief; nachdem sein neuer musikalischer Stil (u.a. mit Hip Hop und Rap angereichert) bei den Fans nicht so gut ankommt, wird seine finanzielle Lage immer prekärer. Da kommt das Angebot, bei einem Festival aufzutreten mit der Auflage, seine alten Hits zu spielen; Orfeas geht darauf ein, und so verlässt ihn mitten im Auftritt seine Muse endgültig. Orfeas muss seinen Auftritt abbrechen, was ihm den Spott der nach ihm auftretenden Metalband Bacchus einbringt, deren Sänger die Fans anstachelt, Orfeas zu zerreißen (in der Sage wurde Orpheus von den Mänaden, berauschten Anhängern des Weingottes Dionysos/Bacchus in Stücke gerissen)." Zitat Ende.

Musikalisch ist "Orfeas" ein vielseitiger Reigen, der nicht bei Hardrock anfängt, über Prog, jazzigen Rock, Rock'n'Roll, diverse Popstilistiken bis in grauenvollen Techno (der Werdegang der Geschichte…) über liedhaften Rock, Radiojingles, Rap, Punkiges, Folkrock und diverse weitere mal intensiv krachende Rocker, mal fröhlich schlendernde Popsongs reicht. Typisch britisch allein ist nicht der Gesang, zugleich die vielen Stile, zuerst natürlich der Gesang, der von diversen Stimmbändern illuster getan wird. Wenn die dramatischen Tiefen der Story durchstiefelt werden, und Orfeas seinen Macken erliegt bzw. die Lust am Musizieren überwiegend verliert (s.o.), ist es interessanter, dem Text im Booklet zu folgen als ohne Text zuzuhören. Erst der Text macht das Konzeptalbum interessant. Die besten Tracks sind die akustischen Stücke, die von David Shaw-Parker eingespielt und -sungen wurden, so schön dramatisch und vital sind diese selbst kompositorisch nicht unspektakulären Parts gelungen, dass nur zu genießen bleibt. Die New Wave Sirene, Pardon, Ikone Lene Lovich, deren eigene Alben zwischen Avantgarde und Billigstpop mäandern, die einen sehr schrägen, eigenwilligen Stil hat, der verhinderte, dass sie wie andere Popchanteusen größere Bekanntheit errang, übernahm die Rolle der Eurydice und macht ihre Sache sehr gut. Längst nicht so schrill und dramatisch wie in Zeiten, als sie ein schickes jugendliches Antlitz zeigte, ist auch ihr Stil gereift und in fast canterburyianische Jazzlyrik gewachsen. Ihre Stimme hat es in sich! (Die Dame ist verrückt [im künstlerischen Sinn], und passt damit perfekt in diesen abgedrehten Songreigen.)
Die Jam-Parts des Beginns sind in der Albummitte fast verebbt, klar, verfolgt die Geschichte, die, typisch britisch, zum düsteren Schmunzeln auffordert und selbst in den technoiden Parts eigenartig ist. Lustiger Weise ist John Ellis, alter Punkrocker, der Mann an der Gitarre, der in seiner Jugend jeden Hippie ob seiner endlosen Jams verjagt hätte. Die Kunst der Rockmusik hat ihr Alter und schiebt die verschieden geprägten Musikergenerationen zusammen - - -
Einer der heftig wildesten Songs ist Track 16, "Carpet of Bones", in dem Metal, Höllenketten, und der vergnüglich schaurige Text ob ihrer Düsternis ordentlich Spaß machen. In Track 22 hat Orfeas seine Gitarre zurück und setzt mit schneidendem Ton zu einem neuen Song an, darauf folgt die Warnung, dass er nicht zurückblicken darf und der dritte Part der Story beginnt. Im zweiten "Interview" ist der Sprechgesang wie schon im ersten unisono mit Streicherbegleitung arrangiert, was einmal mehr eine grandiose Idee ist. Die Geschichte ist so lebhaft und sprachlich auch für nicht unbedingt vollkommen anglophile Leser/Zuhörer nachvollziehbar, erklärt sich selbst, dass die verschiedenen musikalischen Typen für die diversen Storyparts und Personen klar erkennbar und eindrücklich gelungen sind. Die Einzelteile für sich genommen haben längst nicht den Reiz, den das Gesamtkonzept hergibt. Nur das Album am Stück bringt's ganz.
Und klar, Orfeas versaut's. Er schaut zurück. Auf einem Festival in Czecho geht nichts mehr. Die Gitarre gehorcht ihm nicht, er kann sie nicht mehr spielen (sehr eindrücklich gebracht!), sie verlässt ihn. Das Konzert muss abgebrochen werden. Im krass eindrücklichen "Tear Him Asunder" zerlegt die Metalband Bacchus mit trashigem Speedmetal den Text der Sänger ("Reißt ihn in Stücke!"). Mit Orfeas ist es vorbei. Zuletzt tritt noch einmal der Barde auf, das Ende der Geschichte zu erzählen. Wieder sehr dramatisch und grandios singt und spielt David Shaw-Parker (der, wenn ich nicht irre, ein Buch über Van der Graaf Generator geschrieben hat und allerhand vielseitigem künstlerischen Ausdruck nachgeht) nach 34 Tracks und rund 77 Minuten von Orfeas Ende. Seinem Ende? Der Barde weiß es besser!

judge-smith.com
gonzomultimedia.co.uk/product_details/15450/Judge_Smith-Orfeas.html
Jochen Rindfreys Review auf den BBS
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