Karl Jenkins "Stabat Mater" (EMI Classics, VÖ: 28.03.2008)

Progressive Musiker gehen Risiken ein, eingefahrenen Hörvorstellungen zu begegnen. Manche Herausforderung, etwa die Gründung der Band Soft Machine Mitte der Sechziger Jahre, zu denen Karl Jenkins 1972 stieß, nachdem er in der ebenfalls sehr erfolgreichen, grandiosen Jazzrock-Band von Ian Carr, Nucleus, von 1969 als Gründungspersonal dabei war, wird zu einem Magneten, der auch 40 Jahre später keinen Reiz einbüßt und seine Hörer findet. Andere Wagnisse hingegen finden in elegantem Zeitgeist eine Nische, die nach Abklang der Mode wie ein Staubpilz verraucht und nichts zurücklässt.
Es ist stets ein Wagnis, zwischen den Polen E- und U-Musik zu pendeln, mehr noch, diese Pole zu verknüpfen. Karl Jenkins, einst im britischen Jazzrock aktiv, in Soft Machine am erfolgreichsten, findet einen sehr ästhetischen Weg, Klangmuster romantischer Klassik, klassischer Chorwerke und vorderasiatischer Rhythmus- und Gesangmuster zu verbinden. Dabei sieht der (alte) Rockmusiker Jenkins dem (jungen) Klassiker Jenkins immer noch über die Schulter. Die Wucht und Dramatik des Werkes lebt von harmonisch geschickten Schwenken, groß angelegter Gesangsdichte, dem Wechsel aus dynamisch forschen und lasziv schwebenden Partien sowie, instrumental, schwerer dunkler Rhythmusbetonungen, die dem schöngeistigen Geschehen Schwung und Düsternis geben. Das letzte ganz wie in der Rockmusik. An sich jedoch hat "Stabat Mater" wenig Vergleich zu populärer Musik. Die schwelgerischen Streicherpassagen könnten als Filmmusik ausgezeichnet funktionieren, wo die Chorarrangements allerdings viel zu kräftig und vordergründig wären.
Nur in gewissen Partien, wenn etwa im langen Opener "Cantus Lacrimosus", dessen Hauptmotiv in seiner Eingängigkeit und steten Wiederholung zuletzt die Hörfreude arg strapaziert, lässt Jenkins vorderasiatische Rhythmen einfließen, von Jody K Jenkins gespielt. Zudem bringt Belinda Sykes vorderasiatisch ethnische Gesänge als exotisches Markenzeichen ein.
Die Texte, im Booklet abgedruckt, werden in Latein, Englisch, Aramäisch, Griechisch, Hebräisch und Arabisch gesungen. Das macht Eindruck. Chor- und Sologesang ergänzen sich nicht ganz nach klassischem Vorbild, etwa in "Sancta Mater" ist das Arrangement reichlich popbetont, der Track klingt, als hätte ihn Alan Parsons für eines seiner früheren Werke komponiert. Der Rhythmus ist, trotz seines ethnischen Stiles, stark popbetont, die Gesangslinien des Chores klingen viel zu leicht und dünn, Freunde klassischer Musik zu erreichen. Wer klassische Chorwerke mag, wird von alter Musik bis Brahms interessantere und ausgezeichnete Musik finden.
Vielleicht ist aber nicht die Klassikszene das angestrebte Publikum Jenkins' neuesten Streiches. Sondern ein aus der Popmusik herauswachsendes Publikum, das gelangweilt von Pop wie Klassik, von der allgemeinen Präsenz aller Arten Weltmusik tagtäglich umworben, diesen Pfaden folgen mag.
Als Klassik wird sich der Zeitgeist-Mix nicht durchsetzen. Selbst in der heutigen Globalisierungswut, wo verknüpft wird, was von den Originalen hier wie dort nicht gewünscht sein kann, und das Publikum immer nur in gemäßigte Wege geleitet wird, wird eine Grenzüberschreitung wie diese keinen großen Bestand haben. Kulturellen Unterhaltungswert hat das Werk jedoch allemal. Der Schönklang schmilzt sich schmeichelhaft und leicht in die Gehörschalen und bezaubert freundlich und hübsch.

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VM



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