Interview mit Markus Stauss im Februar 2005

Das Eintauchen in die Welt des Bass Saxophon

Der Basler Musiker Markus Stauss veröffentlichte mit seiner Band Spaltklang im letzten Jahr ein äußerst interessantes Album im großen Klangraum zwischen Neuer Musik, Avantgarde und Progressive Rock. Kurz darauf, zum Ende des Jahres 2004, folgte das grandiose Soloalbum "Neolithicum" mit ungewöhnlichen Bass Saxophon/Electronic - Stücken. Nicht ganz nebenbei betreibt Markus sein Label Fazzul. Eine alte Überfall-LP steht bei meinen LPs. Markus ist schon lange dabei.
Was treibt ihn an, woher kommen die Ideen? Nach ein paar Emails hin und her sandte Markus mir dann umfangreiche Antworten auf meine Fragen.



ragazzi: "Du bist nun schon seit Jahren dabei, woraus ziehst Du immer wieder die Inspiration zu neuer Musik?"
Markus: "Ich liebe es Musik entstehen zu lassen (Musik, nicht den "Background" oder weichgespülten Unterhaltungsblödsinn) und mehr denn je zu spielen. So sind schon einige Jahre vorbeigegangen.
Ich improvisiere zu Hause (dank meiner Wohnsituation ist das möglich) auf meinem Instrument (zurzeit vor allem Tenor Saxophon). So entstehen Muster, spezielle Tonreihen, Melodien, Riffs u.a. Einiges davon schreibe ich auf, teilweise bruchstückhaft. Mit diesen Elementen improvisiere ich weiter und ergänze meine Notizen. Dieser Prozess dauert mehrere Wochen manchmal auch Jahre bis aus diesen Notizen Kompositionen entstehen, mal für ULTERIOR LUX, mal für SPALTKLANG, mal für mein Bass Saxophon Soloprojekt NEOLITHICUM usw. Und immer wieder werfe ich viele Notizen auch einfach in den Müll. Sind die Kompositionen (oder Improvisationskonzepte) zu 90% umrissen, wird mit der Band geprobt, das ist seit einigen Jahren im Probelokal von YOLK."
ragazzi: "Schildere bitte Deinen musikalischen Werdegang, wie sich Deine Einflüsse über die Jahre verändert und Dein Verhältnis zu Musik entwickelt haben."
Markus: "Vor Jahrzehnten habe ich 3 Jahre lang klassischen Querflötenunterricht erhalten, habe aber immer improvisiert und weniger die geforderten Flötenstücke geübt. Mit der Zeit kam auch mein erstes Saxophon dazu (s. das erste Bild im Fotoalbum von www.fazzulmusic.ch) und da hat mein Flötenlehrer die Welt gar nicht mehr verstanden, für mich einer der Gründe, meinen Flötenunterricht zu beenden. Etwas später habe ich für 1 Jahr bei René Fisch Saxophonunterricht (klassisch) genommen. René war damals Saxophonist der CH-Gruppe ISLAND, die diese eine LP mit einem HR Giger Bild auf dem Cover veröffentlich hat. Aber das meiste habe ich autodidaktisch gelernt und seit 1970 viel Musik gehört:
Rock: Led Zeppelin, Jethro Tull, King Crimson, Jimi Hendrix, Doors, Franz Zappa, Man, ELP, Cream, Jack Bruce
Früher Jazz-Rock: Miles Davis, Tony Williams Lifetime, Mahavishnu Orchestra, Weather Report.
Free Jazz: Wolfgang Dauner, die späten LPs von John Coltrane, die frühen ECM LPs von Jan Garbarek, Art Ensemble of Chicago, Günther Hampel, Pharoah Sanders, Gato Barbieri, Albert Ayler, Jimmy Lyons.
Mitte der Siebziger habe ich fast ausschließlich Free Jazz gehört und mich für die Entwicklung des Jazz-Rock interessiert, dessen Anfänge ich live miterlebt habe.
Irgendwann Mitte der Achtziger bin ich in die NY Noise Musik "eingetaucht", was letztlich zur Zusammenarbeit mit David Moss "the Godfather of Noise" auf 2 CDs geführt hat.
Seit über 15 Jahren befasse ich mich intensiv mit Mittelalterlicher Musik (vor 1500) und (klassischer) Avantgarde des 20. und 21. Jahrhunderts.
Seit kurzem höre ich viel aktuellen Prog & Fusion. Das hat sich einfach aufgedrängt, da ich in einigen Reviews mit Musikern und Gruppen verglichen wurde, die ich bestenfalls vom Namen her kannte. Wertvolle Infos auf der Suche nach CDs dieser Musiker habe ich bei ragazzi-music.de, proggnosis.com und znrcds.com gefunden."
ragazzi: "Im Laufe der Jahre hat sich Dein musikalisches Umfeld sehr geändert. Früher gab es in der Schweiz Bands wie die Red Devil Band oder Circus, heut Yolk und Arf. Gibt es eine Szene, die ein Bewusstsein dafür hat?"
Markus: "Umfeld und Bewusstsein sind gute Stichworte:
In allen Stil-Bereichen wird viel und gut Mainstream gespielt, auf den Erfolg gehofft und falls sich dieser (in der Regel) nicht einstellt, werden der Musik auch noch die letzten Kanten abgeschliffen oder viele Bands hören dann frustriert auf.
Jedes mal wenn ich Musiker / Musikerinnen für ein besonderes Projekt suche bin ich der Verzweiflung nahe. Ich finde kaum Leute, die bereit sind neben dem Mainstream bekannter Stile zu spielen oder aber es wird sofort über die Höhe von Gagen gesprochen, bevor überhaupt klar ist, was geplant ist.
Und so beschleicht mich manchmal das Gefühl, dass die von dir genannten Bands (YOLK ist die Band des Spaltklangtrommlers Rémy Sträuli und ARF ist mit YOLK und Rémy befreundet) und SPALTKLANG die letzten Exponenten mit visionären Ideen in einer nicht existierenden Szene sind.
Dabei wäre doch gerade jetzt die ideale Zeit, in dieser kantenlosen und angepassten Mainstream - Stimmung, antizyklisch zu agieren und zu musizieren."
ragazzi: "Spaltklang und Dein neues Soloalbum "Neolithicum" sind sehr unterschiedlich, beide wirken sehr dynamisch und überzeugend, Du bist in verschiedenen musikalischen Welten zu Hause?"
Markus: "Für mich ist Spaltklang und "Neolithicum" in der gleichen Welt zu Hause. Der Unterschied entsteht durch die verschiedenen Besetzungen mit ihrem spezifischen Klang.
Spaltklang ist ein Quartett mit Rémy Sträuli (Schlagzeug & Keyboards), Stephan Brunner (E-Bass), Olivier Vogt (Bratsche) und mir (Tenor - und Sopran Saxophon) und wirkt durch eben diese Besetzung auch "rockig", obschon ich Kompositions- und Arrangementtechniken anwende, die in der klassischen Avantgarde und im Free Jazz gang und gäbe sind.
Neolithicum ist ein Soloprojekt für Bass Saxophon plus uralt - live - Elektronik und diese Einschränkung der möglichen Klänge führt dazu, dass NEOLITHICUM als karg und viel näher bei der klassischen Avantgarde stehend wahrgenommen wird."
ragazzi: "Für Dein Soloalbum "Neolithicum" hast Du sicher viel mehr Material gespielt, als auf der CD zu hören ist. Wie hast Du die Auswahl der Stücke getroffen, die auf die CD kamen und wie viele Stunden Arbeit hat die Produktion der CD gekostet?"
Markus: "Ich habe für "Neolithicum" gleich viel (bzw. gleich wenig) Material eingespielt, wie ich das für jede meiner kürzlich produzierten CDs gemacht habe. Ich bin kein Freund von Studio Situationen und den damit verbundenen Stimmungen und "Schwingungen". Darum bin ich so vorbereitet, dass ich meine Musik Studio live spielen kann. Die Hälfte von dem was du hörst ist stets first take Material. Wenn's ganz schlecht läuft kann's ausnahmsweise mal einen dritten oder vierten Take geben.
Bei den EXTRAS war die Vorgehensweise etwas anders. Anstatt Versionen zu spielen, habe ich mit dem Bass Saxophon und der uralt - live - Elektronik solange improvisiert, bis ein Loop entstanden ist, der mir gepasst hat. Dann wurde die Aufnahmemaschine gestartet, der Loop "pur" aufgenommen und z.T. dazu weiter Saxophon gespielt. Diese uralt - live - Elektronik ist nämlich so "steinzeitlich" (neolithisch...), dass sämtliche Loops kein zweites Mal identisch reproduzierbar sind.
Das Komponieren von Stücken für das Bass Saxophon Solo aus einer großen Menge von geeigneten Elementen und das Umarrangieren von "alten" Stücken sowie das anschließende Einüben und erneute umarrangieren oder verändern der Kompositionen hat mich von Mai bis Mitte August täglich beschäftigt. Neben dem Üben der Kompositionen habe ich viele Stunden mit Saxophon & Elektronik improvisiert, da auch Improvisationen ein wichtiger Bestandteil des Projekts sein sollten.
In der "Schlussphase" (6 Wochen vor der Aufnahme) hat mich das alles zusammen mindestens 3 - 4 Stunden täglich beschäftigt. Dann habe ich ein Programm bestehend aus Kompositionen und Improvisationen ausgewählt, mit welchem ich eine passende CD - Dramaturgie kreieren kann. Genau dieses Programm habe ich gespielt."
ragazzi: "Die Idee für das Soloalbum hat sich sicher über einen längeren Zeitraum entwickelt. Wie entwickelten sich die einzelnen Stücke, wie bist Du zu ihnen, oder sie zu Dir gekommen?"
Markus: "Die Idee habe ich 9 Jahre vor mir her geschoben oder mit mir mitgeschleppt, je nachdem aus welchem Blickwinkel du das sehen willst. Es gibt unterschiedlichste Gründe, wieso das so gekommen ist. 1995 sollte es sein, Studio gebucht, alles bereit, dann bin ich vom Rad gestürzt, Schlüsselbeinbruch. Kaum gesund haben sich andere Projekte gehäuft. 1998 begann der zweite Versuch und eh ich mich versah, war daraus auch gleich ein ausgewachsenes Band-Projekt geworden. 2002 nach der ersten Spaltklang - CD begann der dritte Anlauf und plötzlich war es mir doch wichtiger zuerst Spaltklang mit einer weiteren CD zu etablieren. Und dann war fertig mit all diesen Ausreden und ich hab es einfach gepackt. Während all dieser Anläufe hat sich "spielerisch" einiges an Material angesammelt, welches ich dann (wie vorher erzählt) bearbeitet habe. Das älteste Stück ist "Erntedank": diese Improvisation über ein kurzes Bass-Riff war schon 1995 vorgesehen."
ragazzi: "Wer sind Janine und Oscar Wiggli, die im Booklet abgebildet sind? Hast Du dort die Aufnahmen für "Neolithicum" gespielt?"
Markus: "Oscar Wiggli ist Eisenplastiker, Maler und Komponist von elektroakustischer Musik. Janine, seine Frau, führt die EDITIONS IROISE (Buchpublikationen über Oscars Arbeit als Eisenplastiker, Maler und Komponist) und das Label ARGOL RECORDS (CDs mit Oscars Kompositionen elektroakustischer Musik). Sieh mal unter iroise.ch nach. Benno Hofer, ein langjähriger Freund, Studiobesitzer und Tontechniker bei den meisten meiner LP/CD Produktionen, hat es eingefädelt, dass wir NEOLITHICUM in der Skulpturenhalle von Oscar Wiggli aufnehmen konnten.
Es war ein gewaltiges Erlebnis, das Bass Saxophon und die Extras in diesem Raum, umgeben von diesen z.T. monumentalen tonnenschweren Eisenplastiken, erklingen zu lassen."
ragazzi: "Hast Du ein Lieblingsstück auf "Neolithicum"?"
Markus: "Ich liebe eigentlich die ganze CD, sie ist radikal und hat doch viele beschauliche, beinahe meditative Momente. Einige Stücke waren kolossal schwierig umzusetzen, denn du weißt nie zum Voraus, wie kreativ du in der Studio Situation sein wirst oder ob dir die Nervosität einen Streich spielt und du plötzlich etwas gut geübtes einfach nicht mehr auf die Reihe bekommst.
So gesehen wären das meine Lieblinge: "Spastic Funk" und "Erntedank"."
ragazzi: "Wie kommt die CD an? Wie sind die Reaktionen?"
Markus: "Am besten ich zitiere hier mal ein paar Aussagen:
"Das neue Album ist ein Killer! Super Arbeit."... "Ich liebe die CD, aber vielleicht ist das ganze doch etwas zu schwierig, absolut nicht leicht anzuhören. Markus, du bist ein unglaublicher Typ, du spielst immer nur was du wirklich willst und das liebe ich so sehr!" … "Und was für ein Perlenstück" ... "Schön ist sie, auch lustig !" ... "Ein Meilenstein"... "Unglaublich mutig, ein Beispiel dafür was ein Musiker, der keine Kompromisse macht, kreieren kann." … "Ein großes Album! Sehr verschieden von vielen deiner bisherigen Werke, persönlicher und experimenteller. Ich kann nicht genau erkennen, was komponiert und was improvisiert ist, das ist fantastisch! Alan Gowen sagte immer, es sei sein Ziel Musik zu machen, bei welcher es unmöglich ist, die Grenzen zwischen Komposition und Improvisation genau zu erkennen. Ich glaube es ist dir gelungen, diese Vision um zu setzen. Ich denke "Neolithicum" ist gleich hoch einzustufen wie ähnliche CDs auf ECM (John Surman, etc)"… "Allmählich beginne ich zu realisieren, wie großartig diese CD ist." "Sehr sorgfältig gespielt und gedacht; schön, dass es so viele Pausen und viel Luft in den Stücken gibt, keine vordergründige Virtuosität, abwechslungsreich, insgesamt sehr gelungen, überraschend" ... "Ich finde sie Super-Inspiriert und Super-Inspirierend! Sensationelle Klangexperimente." ... und dann wäre auch noch die Review von dir auf dieser Site, sehr empfehlenswert. Wer es eher analytisch liebt und der italienischen Sprache mächtig ist klicke auf agarthaprog.com/default.asp?tip=reviews&pag=reviews&id=245 . Ich werde demnächst eine deutsche und englische Version bei fazzulmusic.ch/deutsch/downloads.php anbieten."
ragazzi: "Wirst Du solo Konzerte geben oder in einem Spaltklang Konzert solo Stücke von "Neolithicum" spielen? Sind die Stücke überhaupt live reproduzierbar?"
Markus: "Spaltklang und NEOLITHICUM wird nicht vermischt. Solo Konzerte (unter Mithilfe einiger Freunde, im Moment noch top secret) werden stattfinden. Die Stücke mit der Elektronik werden einfach anders tönen aber der "Geist" wird derselbe sein."
ragazzi: "Gibt es nette Anekdoten um die Arbeit zum Soloalbum? Es gibt sicher Reaktionen aus Unverständnis zur Musik heraus?"
Markus: "Nicht wirkliche Anekdoten, aber es gibt schon Leute, die mich nach Anhören der CD anschauen, wie wenn ich eine ansteckende Krankheit hätte. Aber das ist ehrlich gesagt nichts Neues. Ich werde immer wieder mal gefragt, wieso ich dies oder jenes eigentlich "mache". Die einzige Entschuldigung wäre in den Augen dieser Menschen, wenn ich mit solchem Tun viel Geld verdienen würde."
ragazzi: "Dein Verhältnis zum Saxophon scheint ein ganz besonderes zu sein. Wie denkst Du über das Instrument, wie bist Du dazu gekommen und welche verschiedenen Instrumente spielst und besitzt Du? Hast Du ein ganz bestimmtes Lieblingsinstrument?"
Markus: "Uh, da muss ich ganz tief in einer riesigen Kiste graben.
Angefangen hat es irgendwann mit einer Bambusflöte, dazu kamen in etwa dieser Reihenfolge: weitere Bambusflöten, eine Querflöte, das schon erwähnte Alto Saxophon (Da habe ich während dem Spielen schon auch mal eine Klappe verloren.) das ich bald ersetzen musste, ein absolut unspielbares Sopran Saxophon das ich durch ein beinahe spielbares Sopran Saxophon ersetzen konnte, eine Altquerflöte, weitere 3 oder 4 Querflöten, weitere Alto Saxophone, ein Bariton Saxophon, zahlreiche elektronische Geräte (Delays, wah-wah, Verzerrer, Synthies, Sampler, 2 Digitalhörner, Sequenzer etc.), zwei Tenor Saxophone und dann endlich habe ich das Tenor Saxophon gefunden (King Super 20), auf dem ich heute noch spiele. Und dann kam dieses "folgenschwere" Jahr 1993, in welchem ich mein Bass Saxophon (Julius Keilwerth) gekauft habe und innerhalb von 2 bis 3 Monaten hat sich alles verändert.
Zuerst habe ich den ganzen Instrumentenberg der sich angesammelt hat verkauft. Da waren auch 4 Instrumente dieser berühmten französischen Marke dabei. Die Leute haben sich beinahe die Köpfe eingeschlagen, um diese zu erhalten.
Geblieben ist dabei nur dieses Tenor Saxophon, das neue Bass Saxophon und eine minimalste Menge Elektronik. Vom Erlös des Verkaufs habe ich mir endlich ein brauchbares Sopran Saxophon angeschafft, für den Unterricht ein "normales" Alto Saxophon und eine einfache Schülerquerflöte. Auf diesen Instrumenten spiele ich heute noch und es ist auch nichts mehr dazugekommen.
Das Eintauchen in die Welt des Bass Saxophon und das Entfernen dieses Instrumenten- / Materialberges hat meine ganze Einstellung zum Saxophonspiel verändert. Alles was jene Saxophon - Gurus seit jeher predigen (welches Horn du spielen musst, welche Blättern, welche Blatthärte, welches Mundstück, welche Blattzwinge, welchen Ansatz du pflegen musst, was für welchen Stil gut ist, was wie gespielt werden, was ein richtiger Saxophonist sonst noch beachten muss usw.) hat für mich zu 100% an Bedeutung verloren.
Wie es für mich funktioniert, kannst du auf den CDs hören. Meine veränderte Philosophie des Saxophonspiels gebe ich in meinem Unterricht weiter."
ragazzi: "Ist die freie/Rock/Jazz/Avantgarde Szene in der Schweiz ausgebildet? Kennt man sich? Ist so der Kontakt zu den jüngeren Musikern wie Rémy Sträuli zustande gekommen? Wie organisiert sich Spaltklang, ist das nur ein Nebenprojekt? Was ist Deine Hauptbeschäftigung? Kannst Du von der Musik leben?"
Markus: "Das sind aber ganz viele Fragen in einer. Ich versuche mal das etwas aufzutrennen.

1) freie/Rock/Jazz/Avantgarde Szene in der Schweiz: Ich denke diese Szene ist darum schlecht ausgebildet, weil hier alles, was nicht du nicht in irgendeiner Schublade versorgen kannst, kaum irgendwo live gespielt werden kann und wenn, dann in der Regel unter katastrophalen Bedingungen. So kannst du dir deinen Lebensunterhalt nicht verdienen und diese Tatsache entmutigt begreiflicherweise viele Musiker und Musikerinnen.
Zudem, das werden einige Leute gar nicht gerne hören, habe ich immer wieder und immer mehr den Eindruck, dass es klare Trennung zwischen Rock und Jazz gibt. Ich masse mir an darüber zu sprechen, weil ich schon seit "ich weiß nicht wie lang" in diesen beiden Bereichen tätig bin und das was ich darüber berichte "live" erlebt habe und immer wieder von neuem erlebe.
Aus Jazzersicht gilt die Einstellung, dass alles Interessante und bewegende im Jazz passiert, allenfalls noch in der klassischen Avantgarde und dass sich Rockmusik seit Jahren kaum verändert hat. Die Rocker ihrerseits fühlen sich u.a. von den Behörden ungerecht behandelt (Geld wird vor allem für klassische Orchester, Jazz Schulen etc. gesprochen) und erleben das Gebaren der Jazzer ihnen gegenüber als hochnäsig. Daraus entwickelt sich eine Abneigung gegen alle diejenigen, die am institutionalisierten Kulturkuchen teilhaben.
Die unmittelbare Folge ist, dass Jazzer und Rocker nur dann wirklichen Kontakt miteinander haben (zusammen ein Projekt verfolgen), wenn es finanziell interessant ist.

2) Kontakt zu den jüngeren Musikern wie Rémy Sträuli: Mit dem Kontakt zwischen jung und alt ist es auch in der Musik genau so wie überall, nicht besser und nicht schlechter.
Rémy habe ich über die Musikwerkstatt Basel kennen gelernt. JoPo, ein Saxophonist mit welchem ich viele Projekte verwirklicht habe und einer der Motoren von XOPF Records, hat mich auf YOLK aufmerksam gemacht, welche eben auf XOPF ihre erste CD veröffentlicht haben. Ich habe mit Rémy Kontakt aufgenommen, das war vor 10 Jahren. Seither haben wir zusammen 4 CDs eingespielt.
Der jüngste Klangspalter, der Bassist Stephan Brunner, ist von Rémy "entdeckt" worden. Ich bin sehr froh, dass Rémy in der damaligen Situation (Gründung von Spaltklang) so erfolgreich aktiv geworden ist, denn Bassisten finden ist ein "übles" Thema.
Olivier Vogt habe ich kennen gelernt, als er einen Weiterbildungskurs für Musiklehrkräfte besucht hat, den ich geleitet habe.
Du siehst, alles ein bisschen "zufällig" und keineswegs Produkt einer funktionierenden freie/Rock/Jazz/Avantgarde Szene in welcher man & frau sich kennt.

3) So organisiert sich Spaltklang: Spaltklang ist eine meiner musikalischen Haupttätigkeiten. Hier kann ich eben diese Verbindungen von Komposition und Improvisation inszenieren. Die Truppe ist wirklich ein Geschenk des Himmels, ich muss keine Rücksichten auf stilistische Regeln nehmen, alle können Blatt lesen und da sind keinerlei Berührungsängste. Zurzeit (motiviert sicher auch durch die vielen enthusiastischen Feedbacks auf "Surprise") sind alle noch hungriger. Ich habe neue Stücke geschrieben und so proben wir bereits das Programm der nächsten CD. Was sollen wir auch anderes tun, SPALTKLANG geht's wie YOLK, kaum Gigs irgendwo.

4) Ob ich von der Musik leben kann? Natürlich nicht. Ich arbeite Teilzeit an der Staatsschule. Da unterrichte ich Musik, Zeichnen, Mathematik und Naturlehre. Ein Lehrerdiplom habe ich gemacht, das ist schon lange her aber in eine dieser Jazzschulen konnten mich keine 10 Pferde bringen. Wenn ich mich erinnere, wie Rémy an einer dieser Schulen gepeinigt worden ist, kann ich nur sagen: "Glück gehabt!""
ragazzi: "Wenn Du einen Wunsch frei hättest, welches Traumprojekt würdest Du verwirklichen?"
Markus: "Diese Frage passt wunderbar zu Punkt 3) der vorhergehenden. Zurzeit denke ich viel an die Zukunft von Spaltklang. Ich würde gerne mal ein paar Gigs an "richtigen" Anlässen spielen, da wir wie gesagt kaum irgendwelche Gigs irgendwo haben. Pro Jahr 2 bis 3 Tourneen unter menschenwürdigen Bedingungen, organisiert von einem fähigen Management wäre zwar kein Projekt aber wie ein Traum.
Spontan hätte ich jetzt doch noch eine Vision. In den Reviews zu "Surprise" und zum Teil auch schon zu "Alpenglühen" wird SPALTKLANG mit UNIVERS ZERO, BLAST, CURLEW u.a. verglichen. Mit einer dieser Bands mal ein gemeinsames Projekt gestalten, ein gemeinsames Programm schreiben und auf einer kleinen Tour aufführen, das wäre echt ein Ding. Und weil wir nun bei Visionen angelangt sind, würde ich die Liste der Wunschbands für so ein Projekt noch um VOLAPÜK und GATTO MARTE erweitern."
ragazzi: "Wie findest Du Yolk?"
Markus: "Ich finde Yolk so gut und wichtig, dass ich YOLK "Viertens" auf FAZZUL MUSIC (fm 0820) produziert habe. Diese Tatsache ist auf dem CD - Booklet kaum zu erkennen, weil das für die YOLK Fans auch gar nicht wichtig ist. Es geht einzig und allein um diese Aufnahmen YOLK - scher Musik, die beinahe verschimmelt wären und um nichts anderes. Deprimierend ist das Gitarristen - Problem, welches sie zurzeit haben."
ragazzi: "Hast Du einen Tipp bezüglich Schweizer/weltweiter Bands/Musik, die Du bevorzugst?"
Markus: "Wie eingangs mal erwähnt, bin ich daran einiges an neuem und altem Prog & Fusion "nachzuholen". Dabei gefallen mir folgende CDs / Bands besonders gut: weltweit: Area "Arbeit macht frei", Thinking Plague "In Extremis", French TV "The violence of amateurs", Ut Gret "Time of the Grets", Rattlemouth "Walking on a Full Moon Dog", Miriodor "3rd Warning" und diverse CDs von Univers Zero, Blast, Curlew, Volapük und Gatto Marte.
Schweiz: YOLK "Octopus" und "Viertens"
Musik, die man & frau unbedingt einmal im Leben ansaugen sollte: (Tut mir leid, dass diese Liste schon in einem anderen Interview steht, ist mir aber schon eine sehr wichtige Message)
Free Jazz & "früher" Jazz - Rock
John Coltrane: "A Love Supreme" (LP Impulse AS 77)
Albert Ayler & Don Cherry: "Vibrations" (LP Intercord oder Freedom oder Black Lion 28461-2U)
Don Cherry: "Where is Brooklyn?" (LP Blue Note BST 84311)
The Tony Williams Lifetime: "Emergency!" (CD reissue Verve 314 539 117-2
The Tony Williams Lifetime: "(turn it over)" (CD reissue Verve 314 539 118-2
Wolfgang Dauner: "Output" (LP ECM 1006)
Jan Garbarek, Arild Andersen, Edward Vesala: "Triptykon" (LP ECM 1029)
Miles Davis: "live - evil" (2-LP CBS S 67219) (CD reissue ?)
Gato Barbieri: "The Third World" (CD reissue von RCA - BMG 7 4321 1257 582 european edition)
Rock (King Crimson, Gentle Giant, Zappa etc fehlen da. Ich nehme an, das kennen Ragazzi Fans sowieso schon alles)
Jimi Hendrix: "Electric Ladyland" (2-LP Polydor 2657012) (CD reissue?)
Jack Bruce Band: "How's tricks" (LP RSO 2394 180) (oder aus "the Jack Bruce Albums remastered" series von Universal - Polydor z.B. Jack Bruce: "Harmony row" Universal - Polydor CD 065605-2)
Man: "Do you like it here now, are you settling in?" (LP UAS 29236)
Und als kleiner Einstieg in die Musik des Mittelalters
Neidhard von Reuental (z.B. CD Christophorus 77108 MusiContact GmbH, Germany)
Cant de la Sibilla (CD Astrée Auvidis E 8705)
Troubadours, Thomas Binkley - Studio der frühen Musik (2-CD Teldec 4509-97938-2)"
ragazzi: "Fazzul Musik ist Dein Label. Was veröffentlichst Du dort? Ist die Arbeit mit Fazzul erfolgreich? Wie sieht es mit geplanten Projekten aus?"
Markus: "Ich veröffentliche meine eigene Musik und die von befreundeten Bands, wenn diese Interesse haben und es in mein Konzept passt. Ich kann mir auch vorstellen, andere, mir noch unbekannte Bands zu veröffentlichen.
Die Arbeit ist mit großem finanziellem Aufwand verbunden, aber ich bin mit diesem "Gefäß" auf jeden Fall künstlerisch unabhängig.
Eine der nächsten Produktionen wird die 3. CD von SPALTKLANG sein, falls aber ... (es ist etwas im tun, wir werden sehen.) und höchstwahrscheinlich eine CD - Reissue des Vinyl-Live-Doppelalbums von ULTERIOR LUX 1990.
Das Neuste von FAZZUL MUSIC kannst du jeweils bei fazzulmusic.ch/deutsch/aktuell.php nachlesen."
ragazzi: "Deine Zukunftspläne?"
Markus: "Sagen wir mal Projekte für die unmittelbare Zukunft, zuerst was ich schon genannt habe:
1) CD - Reissue von ULTERIOR LUX 1990
2) 3. CD von Spaltklang
3) NEOLITHICUM live mit Special Guest ...
und dann
4) Eigentlich wäre ich jetzt in den Vorbereitungen zu einer Europa-Tour mit FRENCH TV. Leider wird nichts draus. Jedenfalls bin ich nun im Kontakt mit der Band und wer weiß ...
5) Den Kontakt mit weiteren Bands intensivieren. Mithilfe bei Produktionen oder als Saxophonist bei besonderen Projekten. 2 Dinge sind momentan im Gespräch.
6) Ein neues Projekt wiederum im "salle d'exposition Oscar Wiggli", wo ich NEOLITHICUM aufgenommen habe. Geplant ist eine Aufführung / DVD & CD Aufnahme mit Kompositionen und Improvisationen für Schlagzeug, die Skulpturen von Oscar Wiggli als Klangquelle, Saxophone, Elektrobass (ev.) und elektroakustische Inputs von Oscar Wiggli. Ich bin mit interessierten Musikern im Gespräch."
ragazzi: "Was möchtest du noch wichtiges oder persönliches anhängen, was mit den bisherigen Fragen nicht berührt worden ist?"
Markus: "Ich habe viel über SPALTKLANG, NEOLITHICUM und meine aktuelle Situation gesprochen. Dabei ist einer der wichtigsten Musiker mit welchen ich gespielt habe, nicht erwähnt worden, da er mit SPALTKLANG und NEOLITHICUM nichts zu tun hat. Ich spreche von JEAN CHAINE, diesem Monster Elektrobassisten, der in der DENSE BAND von David Moss gespielt hat. Durch die Zusammenarbeit mit David (auch eine ganz wichtige Begegnung !!! ) habe ich Jean kennen gelernt. Er hat auf folgenden Produktionen mitgewirkt, die mit Ausnahme von ÜBERFALL viel mehr improvisationsorientiert sind als SPALTKLANG:

1989 JOPO & MARKUS STAUSS meet JOHN KING ELECTRIC WORLD feat. David Moss & Jean Chaine (CD Xopf Nr. 4)
1989 ÜBERFALL "Nr. 3" (LP Fazzul Music fm 0815)
1990 JEAN CHAINE & HIS ULTERIOR LUX "The Dancing Man" (2-LP Fazzul Music fm 0816)
1992 MARKUS STAUSS PROJECT "New Duos 'n' Trios" (CD Xopf Nr. 14)
1992 MARKUS STAUSS W/ CHAINE & ULRICH "First Takes 92" (LP Xopf Nr. 15)
1994 STAUSS / CHAINE / LINDENMAIER "Open" (CD Xopf Nr. 21)
1994 ÜBERFALL "So uferlos im Abendwind" (Compilation 1986 - 1989) (CD WMMS 060)
1996 ULTERIOR LUX "Evergreen" (mit Rémy Sträuli) (CD Xopf Nr. 26)
1997 ULTERIOR LUX "Adventures" (mit Rémy Sträuli) (CD Xopf Nr. 30)

Für die Fans von SPALTKLANG wären ganz sicher die beiden ULTERIOR LUX von großem Interesse. MARKUS STAUSS PROJECT "New Duos 'n' Trios" und STAUSS / CHAINE / LINDENMAIER "Open" wäre was für die Hard Core Free Fans. Mit der CD reissue von ULTERIOR LUX "The Dancing Man" 1990 wird vielleicht ULTERIOR LUX wieder belebt, das wird aber keine Variante von SPALTKLANG sein, sondern eine ganz eigene Gruppe, eben mehr Improvisation über knappe Themen.
Schaut euch mal ein paar Reviews auf fazzulmusic.ch/deutsch/fazzulberichte.php von 1997 zurück bis 1992 an.

Und dann wäre da noch ÜBERFALL, aber lassen wir das, ist nun wirklich sehr sehr lange her. Ein Blick auf fazzulmusic.ch/deutsch/projektdetails.php?id=3 gibt interessante Einblicke.

Und zum Schluss bedanke ich mich ganz herzlich bei Volkmar Mantei für seine Anfrage, dieses Interview zu führen. Von den Ragazzi Fans wünsche ich mir den einen oder andern Eintrag im Gästebuch von FAZZUL MUSIC."

SO
das wär's.

Nochmals herzliche Grüße
Markus

VM




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