LACRIMOSA

Veröffentlichungen des Duos Thilo Wolff und Anne Nurmi alias Lacrimosa sind Erfolgsgaranten. So haben die beiden auch beim Werk "Fassade" weder Kosten noch Mühen gescheut, die Rockoper "Elodia" von vor zwei Jahren zu übertreffen. Im ragazzi-Interview sprach Thilo aber nicht nur über das neueste Album, sondern verriet u.a. seine und Annes derzeitigen musikalischen Vorlieben.  
ragazzi: "Alle Welt ist begeistert von eurem Album. Bist du das auch? Oder denkst du im Nachhinein, dieses oder jenes hätte anders sein können?"
Thilo: "Nee. Wenn ich nicht begeistert wäre, hätte ich es in dieser Form auch nicht rausgebracht."
ragazzi: "War die Reihenfolge der Songs "Fassade 1, 2, und 3", sowie der Songs, die dazwischen liegen, genau so geplant? Oder wurde das erst beim Mischen des Albums so beschlossen?"
Thilo: "Das war von vornherein Absicht, da die Texte aufeinander Bezug nehmen. Auch musikalisch besteht Verwandtschaft, weil das Grundthema von "Fassade" in allen Titeln wiederkommt. Das hängt konzeptionell schon stark zusammen."
ragazzi: "Was liegt dir stärker am Herzen, dass die Leute auf die Texte hören oder die Musik lieben? Worüber sollen sie sich mehr Gedanken machen?"
Thilo: "Lacrimosa stützt sich auf drei Säulen. In erster Linie auf die Texte, dann auf die Musik und auf das Cover. Und in dieser Reihenfolge sind auch die Prioritäten gesetzt. Wenn ich einen Song schreibe, ist immer erst der Text da. Am liebsten ist mir, wenn jemand alles als Gesamtkunstwerk betrachtet."
ragazzi: "Lacrimosa steht zwischen den musikalischen Szenen. Aber wem fühlt ihr euch zugehörig?"
Thilo: "Ich war immer ein Feind von irgendwelchen Schubladen und habe versucht, durch unsere Auftritte die verschiedenen Szenen zusammenzuführen und die Akzeptanz untereinander zu erhöhen. Im Grunde haben wir alle das Problem, dass das große Musikbusiness, ob Fernsehen oder Radio, Gothic und Metal einfach verschweigt. Und wenn sich die ganzen sogenannten Independentbands nicht noch untereinander bekriegen, und die verschiedenen Stilrichtungen mehr zueinander finden würden, hätten wir die Möglichkeit, in dem ganzen Business gemeinsam stärker aufzutreten."
ragazzi: "Du legst eine starke Betonung auf den Begriff "Independent"..."
Thilo: "Es ist mir insofern wichtig, da es einen Haufen Bands gibt, bei denen es heißt, sie wären Independent. Und das sind dann ein paar Jungs, die auf der Gitarre rumhauen. Dabei hat das mit Independent gar nichts zu tun. Die haben einen Major-Labelvertrag und kriegen gesagt, was sie zu tun haben. Der Begriff Independent hat sich sehr gewandelt im Laufe der Zeit und ich finde es wichtig, dass man sich wieder einmal darum kümmert, was dieser Begriff eigentlich bedeutet. Es muss einfach ein paar Bands geben, die machen, was sie machen wollen und sich nichts von der Plattenindustrie vorschreiben lassen."
ragazzi: "Lacrimosa sind ja nur zwei Personen, du und Anne. Doch fast alles Musikalische und auch das Artwork ist von dir. Wie läuft eure gemeinsame Arbeit ab?"
Thilo: "Wir arbeiten unabhängig voneinander. Wenn ich eine Demo-Version fertig habe, spiele ich sie Anne vor. Sie sagt ihre Meinung und öffnet mir zum Teil auch die Augen. Aber im Großen und Ganzen arbeitet jeder alleine und man schaut sich an, was der andere gemacht hat. Und trotzdem ist alles wie aus einem Guss und das macht unsere Arbeit so einzigartig. Deshalb ist Anne auch die einzige Person, die sozusagen Mitglied bei Lacrimosa geworden ist. Wir haben die gleichen Wurzeln und uns in dieselbe Richtung entwickelt. Erst Gothic, dann Deathmetal und heute hören wir Sachen wie Alannis Morrisette oder Garbage."
ragazzi: "Hast du dir nie Gedanken gemacht, die Band zu vergrößern? Oder magst du es gerade, dir die Musiker rauszusuchen, mit denen du arbeiten willst?"
Thilo: "Es gibt mehrere Gründe dagegen. So wie Lacrimosa strukturiert ist, ist eine Demokratie nicht gerade positiv. Es geht nicht darum, die beste Band zu sein, sondern darum, dass ich meine Gefühle zum Ausdruck bringen möchte. Es ging am Anfang auch nicht darum, eine Band zu gründen. Vielmehr wollte ich meinen Texten eine weitere Dimension schaffen. Und wenn nun andere Bandmitglieder wären, die einen größeren Einfluss hätten, würde es von dem Grundgedanken wegkommen. Denn niemand kennt meine Gefühle so gut wie ich selbst. Außerdem sollte man immer mit den Musikern arbeiten, die die jeweilige Platte nötig hat. Da ist es mir einfach lieber, dass ich diejenigen auswählen kann, die mir wichtig sind."
ragazzi: "Wie funktioniert das dann live?"
Thilo: "Da sind wir schon eher eine Band. Es ist ein Team entstanden, dass sich zu Konzerten immer wieder zusammenfindet. Ich sehe Lacrimosa live sowieso mehr als ein Nebenprojekt. Es ist einfach eine andere Art und Weise, an die Songs ranzugehen. Live versuche ich alles, was ich in die Musik reingelegt habe, dem Publikum darzubieten und auf eine Ebene mit ihm zu kommen. Das heißt, auf der Bühne wird viel improvisiert und das geht nur, wenn man ein eingespieltes Team ist. Deshalb treten wir auch nicht mit Orchester auf, die hängen zu sehr an ihren Noten."
ragazzi: "Wie ist es denn, mit großen Orchestern zu arbeiten?"
Thilo: "Es ist wirklich interessant, so zum Beispiel beim London Symphony Orchester. Einige Musiker freuten sich sehr mit mir zu arbeiten, weil sie Lacrimosa auch privat hören. Die meisten Musiker, und das ist sehr traurig, sitzen aber nur da und spielen ihr Instrument, als wenn sie im Büro am Computer sitzen und um fünf Uhr fällt ihnen der Bogen aus der Hand."
ragazzi: "Wie komponierst du die Songs? In der Badewanne? Oder auf Befehl?"
Thilo: "Meistens schreibe ich einfach meine Gedanken auf. Ich habe immer Zettel und Stift bei mir, es ist quasi wie ein Tagebucheintrag. Und der eine oder andere Text trifft genau das, was ich sagen wollte. Aber meistens ist es so, dass am Klavier die Muse versucht mich zu küssen."
ragazzi: "Du hast einmal gesagt, du wärst ein sehr positiver Mensch. Die Texte lassen eher auf das Gegenteil schließen..."
Thilo: "Ich bin durchaus ein optimistischer Mensch. Nur wenn man nicht den Mut hat, dunkle Ecken in einem selbst zu erforschen, wird man das absolute Glück und die innere Ausgeglichenheit nie wirklich erleben können. Auf der anderen Seite muss man auch ein gewisses Licht in sich tragen, um in die dunklen Ecken leuchten zu können. Und mit dem kann man den Mut und die Kraft gewinnen, sich gegen nicht so schöne Sachen zu behaupten. Je tiefer man in die eigenen Abgründe leuchtet, desto intensiver können auch die Glücksmomente werden. Viele Menschen setzen sich heutzutage nicht mehr intensiv mit sich auseinander und können sich deshalb auch nicht mehr mit ihren Mitmenschen auseinandersetzen. Eine Kultur, wie wir sie heutzutage haben, überdeckt oftmals nur die innere Leere und Orientierungslosigkeit."
ragazzi: "Du willst die Leute zum Nachdenken anregen. Bekommst du ein Feedback von den Fans?"
Thilo: "Sehr oft und das sind die schönsten Sachen. Ich hab oft Nachrichten bekommen, da stand drin: "Vor einem Jahr ging es mir sehr schlecht, ich wollte mich umbringen. Und dann habe ich mich intensiv mit deiner Musik auseinander gesetzt und das hat mir geholfen." Das ist das schönste Kompliment, das man kriegen kann."
ragazzi: "Was soll das Cover und der Titel "Fassade" bedeuten? Was sollen die Antennen auf den Köpfen der Männer?"
Thilo: "Damit will ich zum Ausdruck bringen, dass das die Masse, das Volk ist. Alle sind gleichgeschaltet, alle denken und tun das Gleiche. Und sie sind sich dessen nicht bewusst, dass ihnen ihre Persönlichkeit genommen wurde. Die Kabel stehen für die Meinungsbildung durch die Medien. Und die Models symbolisieren die Oberflächlichkeit."
ragazzi: "Ihr tretet aber auch sehr gestylt auf. Ist das dein eigener Stil?"
Thilo: "Natürlich guckt man sich viel ab, gerade in der Gothic-Szene. Und es ist bestimmt nicht meine Erfindung, mir die Lippen schwarz zu schminken. Aber ich habe mich mehr und mehr entwickelt. Die Szene ist oft engstirnig. Ich bin meinen eigenen Weg gegangen. Aus meinem Erscheinungsbild ist so eine Art Image geworden, das zu einer Art Fassade wurde. Dabei habe ich immer versucht, mein Inneres nach außen zu kehren. Doch man betrachtet mich einfach nur, ohne auf mein Inneres zu schauen. Deshalb lege ich das mehr und mehr ab."
ragazzi: "Gibt es ein Video zum neuen Album?"
Thilo: "Bisher gab es immer Videos. Dieses Mal aus zwei Gründen nicht: a) weil die Zeit nicht da war und b) bin ich frustriert. Du drehst deine kleinen Filmchen und schickst sie an die Sender und die sagen" das ist ja Gruftmusik", das passt nicht und es wird nicht gespielt."

Silke Wächter




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