In the Nursery

Mit einem Paukenschlag hat sich "In the Nursery" mit einem neuen Studioalbum und einer kleinen Tour zurückgemeldet. "Praxis" ist der Titel des Albums, das seit 23. Mai in den Läden steht. Vor ihrem Konzert im "Nachtleben" in Frankfurt am Main sprach Ragazzi mit den Zwillingen Klive und Nigel Humberstone und Sängerin Dolores Marguerite C.






ragazzi: "Im Begleittext zu "Praxis" sagt Ihr, das Album enthalte "zehn neue Stücke, erschaffen durch Reibung, Konfrontation, Erkundung und Reflektion." Das klingt dramatisch. Was hat das zu bedeuten?"
Nigel: ""Praxis" ist ein Begriff aus der Philosophie. Er beschreibt einen Lernprozess in dem man Stationen intensiven Handelns und Schaffens durchläuft. Man arbeitet an etwas, lehnt sich dann zurück um es zu betrachten und zu analysieren, um dann den nächsten Schritt zu gehen. Ich habe darüber gelesen und fand, dass es unsere musikalische Arbeit spiegelt. Es gibt Phasen, in denen wir sehr intensiv an unserer Musik arbeiten, und dann ist es hilfreich, zu unterbrechen, das Resultat mit etwas Abstand zu betrachten und weiterzuentwickeln.
Darüber hinaus hat "Reibung" und "Konfrontation" auch damit zu tun, dass wir Brüder sind und schon seit über 20 Jahren zusammenarbeiten. Obwohl wir uns sehr gut verstehen gibt es oft Meinungsverschiedenheiten und Spannungen."
ragazzi: "Auch die Songtitel wie "Concept", "Error Theory", "Memento", "Ethics of Belief" und eben das Titelstück "Praxis" fügen sich in diesen Zusammenhang. Das Thema zieht sich also wie ein roter Faden durch das Album?"
Clive: "Wir machen gerne Themenalben. Das macht die Arbeit für uns interessanter, und ich glaube auch für die Hörer, die neugierig werden, nach der Bedeutung fragen und sich damit auseinandersetzen. "Praxis" handelt auch davon, durch das was man tut, durch die seine Arbeit eine Identität zu entwickeln."
ragazzi: "Mit "Praxis" legt Ihr nach dreijähriger Pause wieder ein ITN-Studioalbum vor. In den vergangenen Jahren habt Ihr Euch sehr mit Filmmusik beschäftigt, zum Beispiel Soundtracks zu Stummfilmklassikern produziert und aufgeführt. War nun einfach die Zeit reif, sich wieder auf das ursprüngliche Projekt "In the Nursery" zu besinnen?"
Clive: "Ja, wir wollten wieder ein richtiges Studioalbum aufnehmen. Das letzte, "Groundloop", entstand bereits im Jahr 2000. Da wir unser eigenes Label betreiben, können wir uns glücklicherweise aussuchen, was wir machen wollen. Es kommt auch immer darauf an, welche Projekte uns über den Weg laufen, beispielsweise die Stummfilmprojekte. Tatsächlich hatten wir das Gefühl, einige Songs parat zu haben, die sich gut auf einem neuen Studioalbum machen würden."
ragazzi: "Macht es einen Unterschied in Eurer Arbeitsweise, ob Ihr Filmmusik schreibt, die ja auf einer visuellen Vorlage basiert, oder ob Ihr ein "In the Nursery"-Album komponiert?"
Clive: "Es bedeutet eine gewisse Freiheit, wenn man keine bildliche Inspirationsquelle hat, sondern selbst mit der Musik eine bestimmte Atmosphäre schaffen muss. Und es kann ein sehr befreiendes Gefühl sein, so zu sagen vor der weißen Leinwand zu sitzen."
ragazzi: "Habt Ihr denn schon während der Stummfilmvertonung Ideen für das neue Album gesammelt und Material zu Seite gelegt, oder habt Ihr "Praxis" erst danach aus einem Guss entwickelt?"
Clive: "Unser letztes Optical Music Projekt war sehr arbeitsintensiv und wir haben in dieser Zeit nichts anderes gemacht. Erst als das abgeschlossen war, haben wir mit dem neuen Studioalbum begonnen."
Nigel: "Aber es gab durchaus Tracks, bei denen wir das Gefühl hatten, dass sie nicht so gut ins Konzept der Filmmusik passen und die wir aufgehoben haben, um sie später in anderer Form zu verwenden."
ragazzi: "Auf "Praxis" kommt mehr Gesang zum Einsatz als auf früheren Alben von "In the Nursery. Dolores singt die Titel "Vocopolis", "Memento", "Amer" und "Argent", ihr selbst übernehmt den Gesangspart auf "Ethics od Belief" und "Concept". Und auf dem wunderschönen Stück "Outburn" tritt die Musik fast schon in den Hintergrund und umrahmt die Stimme von Gastsänger Katz Kiely. Stimmt der Eindruck, dass Gesang in Eurer Musik eine größere Rolle spielt?"
Clive: "Ja, das ist richtig. Obwohl es keine bewusste Entscheidung war. Es hat sich einfach so ergeben. Zunächst entsteht die instrumentale Basis. Wir legen nicht von vorneherein festl, auf welchen Stücken Gesang sein soll."
Nigel: "Die Stimme ist eine zusätzliche Ebene."
ragazzi: "Und wie erreicht Ihr dann die Balance zwischen Musik und Stimme?"
Clive: "Etwa auf halben Weg des Produktionsprozesses merkt man, wo noch Lücken sind, während andere Stücke einfach rund sind und keines zusätzlichen Gesangs bedürfen. Manchmal unterstützt der Gesang den Kompositionsprozess und hilft, einen Song zu strukturieren. Man kann dann die musikalischen Bestandteile zerlegen und drum herum arrangieren."
ragazzi: "Wer schreibt denn die Texte?"
Clive: "Da arbeiten wir zusammen, aber die meisten schreibt Dolores."
ragazzi: "Dolores, wie gehst Du dabei vor? Hörst Du Dir die Musik an und lässt dich davon zu einem Text inspirieren?"
Dolores: "Manchmal ergibt sich das ganz unmittelbar. Einige Stücke haben sofort eine bestimmte Assoziation für mich. Als ich "Amer" hörte, kamen mir spontan die Worte"bitter sweet" in den Kopf. Den Rest baue ich dann darauf auf."
ragazzi: "Meistens singst Du auf Französisch. Bevorzugst Du diese Sprache wegen ihres Klangs?"
Dolores: "Ja. Französisch ist eine sehr romantische Sprache und hat eine Sprachmelodie, die gut zu den Stücken passt. Aber noch ein Grund ist, dass ich bei meiner ersten Zusammenarbeit mit "In the Nursery" speziell darum gebeten wurde, für bestimmte Stücke ein paar Passagen auf Französisch zu singen. Das wurde zu einer Art Markenzeichen der Band. Erst in den letzter Zeit haben wir einige Songs auf Englisch aufgenommen, davor gab es auf allen Alben nur französische Texte."
ragazzi: "Eure Musik wird immer wieder als "cinematic music", so zu sagen als bildhafte oder filmische Musik beschrieben. Welchen Stellenwert haben Bilder bei der Entstehung Eurer Musik?"
Clive: "Nun, sie sind keinesfalls zweitrangig, sondern waren immer schon wichtig, angefangen bei der visuellen Gestaltung unserer Alben als auch bei der Musik. Wir lassen uns von Bildern inspirieren, sei es von einem Film oder von etwas aus unserer Fantasie. Zum Beispiel bei "Stormhorse". Als wir das Album 1986 aufnahmen, wollten wir eigentlich einen Soundtrack für einen Film komponieren, weil wir dachten, dass unser Musikstil sich dafür anbietet. Aber das hat sich nicht ergeben, also machten wir eben einen imaginären Soundtrack."
ragazzi: "Hattet Ihr bestimmte Bilder oder Szenen für diesen imaginären Film im Kopf?"
Nigel: "Nein, wir hatten ein Repertoire von Stücken, die eine Geschichte suggerierten - das heißt, nein, eigentlich war es keine richtiger Handlungsablauf, vielmehr eine Bildidee - von einem Pferd in der Landschaft. So kam eins zum anderen. Musik und Bildvorstellung haben sich gegenseitig beeinflusst."
ragazzi: "Gibt es zwischen Euch einen Gedankenaustausch über solche inneren Bilder?"
Clive: "Wir haben sicherlich verschiedene Bilder vor Augen…"
Nigel: "Wahrscheinlich schon. Aber in einem frühen Stadium suchen wir gemeinsam nach einem aussagekräftigen Titel, der zu dem passt, was wir rüberbringen wollen. So war das zum Beispiel bei "Engel"[einem Soundtrack für das gleichnamige Multimedia-Rollenspiel. Anm. d. Red]. Dort hatten wir es mit einer imaginären Welt zu tun."
ragazzi: "Wie gestaltete sich die Arbeit an "Engel"? Das war ja noch mal eine ganz andere Dimension als die Stummfilm-Soundtracks, bei denen Ihr einen fertigen Film als Vorlage hattet."
Clive: "Wir haben sehr gut mit dem Verlag ["Feder & Schwert"] zusammengearbeitet. Sie übersetzten uns Textausschnitte vom Deutschen ins Englische und zeigten uns auch einige der Illustrationen, die uns einen Eindruck von ihrem Stil vermittelten. Daran konnten wir uns orientieren. Diese Leute kannten unsere Musik und erzählten, dass viele Rollenspieler während des Spiels "In the Nursery" hören. Also hatten sie konkrete Vorstellungen über die Art von Musik, die wir zu "Engel" beisteuern sollten. Während der Arbeit an dem Soundtrack standen wir ständig in Verbindung."
ragazzi: "Ihr habt also eine Klanglandschaft für eine Fantasiewelt erschaffen?"
Clive: "So kann man es beschreiben. Die Autoren von "Engel" haben in ihrer Story eine völlig andere Welt erschaffen, die ständig weitere Dimensionen annimmt. Betrachtet man heute das Album, das wir zu "Engel" beigesteuert haben, dann muss man erkennen, das wir nur die Oberfläche streifen, denn das Ganze entwickelt sich immer weiter, selbst jetzt noch nach zwei Jahren. Es wäre reizvoll, noch ein Album zu machen."
ragazzi: "Ist das ein festes Vorhaben?"
Clive: "Der Verlag arbeitet an einem neuen Projekt. Eventuell werden wir auch dabei wieder kooperieren. Ein Mitarbeiter will heute zu unserem Konzert in Frankfurt kommen. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, Details zu besprechen. Außerdem ist es denkbar, "Engel" zu einem Computerspiel auszubauen, möglicherweise wird auch dafür wieder ein Soundtrack benötigt."
ragazzi: "Geht Ihr eigentlich gerne ins Kino?"
Nigel zu Clive: "Du gehst gerne ins Kino, aber ich finde daran kein großes Vergnügen."
Clive: "Er ist da ziemlich wählerisch."
Nigel: "Tja, wie soll ich das beschreiben...ich mag einfach nicht das ganze Drumherum, die Art der Musik, den penetranten Geruch von Popcorn...und ich sitze einfach nicht gerne eng auf eng in diesen großen Sälen."
ragazzi: "Aber wie steht es mit Filmegucken an sich?"
Nigel: "Zuhause, meinst Du? Das gefällt mir besser. Als Student bin ich gerne in Programmkinos gegangen, später habe ich mir das eine oder andere auf Video geholt, oder dann auf DVD. Heutzutage gibt es immer weniger Kinofilme, die mich wirklich interessieren. Zum Teil weil sie immer kommerzieller werden. In vielen Filmen wird heutzutage nur deshalb Musik eingesetzt, um überhaupt Musik drin zu haben, oder weil Plattenfirmen beauftragt sind, einen Soundtrack zusammenzustellen."
ragazzi: "Aber wenn Ihr dann doch mal einen Film anschaut - achtet Ihr bewusst auf die Musik?"
Nigel: "Ich versuche, nicht darauf zu achten. Musik funktioniert im Film nur dann, wenn man sich ihrer nicht bewusst wird und sie den Zuschauer im Zusammenspiel mit den Bildern emotional berührt."
ragazzi: "Gibt es einen bestimmten Film, zu dem ihr gerne einen Soundtrack komponieren würdet?"
Clive: "Alle sagen, dass wir mal etwas zu "Metropolis" machen sollen."
Nigel: "…was wir auch gerne tun würden."
Clive: "Uns schwebt dabei eine spezielle Performance vor. Es wäre schön, das ganze in einer Industriekulisse aufzuführen, die zur Atmosphäre des Films passt."
ragazzi: "Gibt es dafür schon Pläne?"
Clive: "Pläne ja, aber wirklich noch nicht mehr."
ragazzi: "Über Eure Homepage stellt Ihr einen großen Teil Eurer Titel als MP3-Files zur Verfügung. Inwieweit nutzt Ihr das Internet, um Euch und Eure Musik zu promoten?"
Clive: "Das Internet, beziehungsweise die Homepage ist für uns sehr wichtig. Sie liefert interessierten Menschen Informationen über uns und unsere Arbeit. Was MP3 betrifft - wir wollten unsere Musik auf breiter Basis zugänglich machen. Ich denke, dass wir damit viele Leute erreichen, die "In the Nursery" vorher nicht kannten."
ragazzi: "Ist MP3 eine zusätzliche Vertriebsmöglichkeit für die Musik von "In the Nursery", zusätzlich zu herkömmlichen Plattenläden?"
Clive: "Darüber bin ich mir noch nicht sicher. Wir sind beide der Überzeugung, dass MP3 ein gutes Medium ist, um ein neues Publikum anzusprechen und Fans auf dem Laufenden zu halten. Aber ich glaube nach wie vor, dass die Leute etwas Greifbares in der Hand haben wollen, also die CD kaufen. Möglicherweise kann MP3 auf den CD-Verkauf beieinträchtigen, aber das gilt wohl eher für Compilations, die Leute nur wegen einiger bestimmter Stücke kaufen und dann auch unbekanntes Material zu hören bekommen. Dafür wird heute verstärkt das Internet genutzt."

Tanja




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