Front Line Assembly: Electro mit apokalyptischem Geist

Bill Leeb im Gespräch mit ragazzi

Front Line Assembly melden sich mit ihrem aktuellen Album „Epitaph“ (Metropolis Records) eindrucksvoll in der Electroszene zurück. Ich hatte Gelegenheit mit Bill Leeb über die neuen Songs zu sprechen und über seine Weltsicht zu philosophieren. Dabei erfuhr ich nicht nur, warum Rhys Fulber 1997 die Band verließ und welche Musik Bill privat hört, sondern auch was ihn am Musikbusiness stört.




ragazzi: "„Everything Must Perish“ ist die erste Auskopplung aus eurem brandneuen Album „Epitaph“ (Metropolis Records). Wessen Entscheidung war es und warum sollte es gerade dieser Song sein?"
Bill: "Jeder, der unsere Platte vorab gehört hatte, riet uns zu einem anderen Song. Ich wollte, dass die Single die allgemeine Stimmung der Platte repräsentiert. Und ich denke, wenn du „Everything Must Perish“ hörst und dann irgendwann das Album kaufst, wirst du nicht enttäuscht sein von dem, was dich darauf erwartet.
Ich mache mir keinerlei Illusionen darüber, dass Front Line Assembly jemals im Radio laufen werden. Wir sind nun mal keine Top 40-Band, so dass derartige Überlegungen absolut keine Rolle spielten. Außerdem kann man zu „Everything Must Perish“ einfach auch super tanzen."
ragazzi: "Wie groß war der Einfluss der Plattenfirma?"
Bill: "Er war gleich null. Ich habe die komplette Kontrolle und treffe sämtliche Entscheidungen, wie eben auch die, welcher Song als Single erscheinen soll."
ragazzi: "Wenn man die neue Platte hört, könnte man meinen, ihr seid zu euren Wurzeln zurückgekehrt. Würdest du dem zustimmen?"
Bill: "Ja, in der Tat. Ich bin nur etwas verwirrt im Moment, weil wirklich jeder, der die Platte gehört hat, absolut begeistert ist. Es ist schon etwas unheimlich: Wir hatten absolut keine Erwartungen im Vorhinein und erleben jetzt überall diese überschwenglichen, positiven Reaktionen. Bei jeder Platte, die ich mache, gehe ichdavon aus, dass es die letzte sein könnte. Die Zeiten ändern sich sehr schnell und auch die Geschmäcker. Und ich möchte keine Musik machen, die niemand hören will. Als ich mit der Arbeit an „Epitaph“ begann, überlegte ich mir, dass ich wieder zurück will zu dem, was mich ursprünglich an elektronischer Musik faszinierte. Die Platte sollte so sein, dass ich mit ihr glücklich sein würde, auch wenn morgen alles vorbei wäre. Deshalb findest du u.a. keine Gitarren mehr in den Songs."
ragazzi: "Haben die euphorischen Reaktionen auf die neue FLA-Produktion möglicherweise auch mit dem überwältigenden Erfolg deines Nebenprojektes Delerium zu tun? Immerhin war „Silence“ in fünf Ländern Nummer eins."
Bill: "Also, ich weiß eigentlich nicht, was ich noch denken soll. Alles hat sich so drastisch verändert. Obwohl unsere letzte Veröffentlichung „Implode“ eine wirklich gute Platte war, erhielt sie nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient gehabt hätte. O.k., es gab einige gute Kritiken, aber verglichen mit Delerium waren die Reaktionen doch eher verhalten. Interessanterweise kennen fast alle Front Line-Fans Delerium, aber nur wenige der Leute, die eine Platte von Delerium kaufen, hören auch FLA."
ragazzi: "Warum deine vielen Nebenprojekte? Außer dem bereits erwähnten sind da ja noch Noise Unit, Synaesthesia, Cyberaktif etc."
Bill: "Weißt du, wenn ich nur FLA hätte, wäre ich schnell gelangweilt. Wenn du beispielsweise ein kreatives Bild malen möchtest, musst du auch verschiedene Farben benutzen. Viele kennen nur schwarz und weiß, was auf Dauer einfach langweilig ist. Mit meinen Nebenprojekten verhält es sich ganz ähnlich. Ich hoffe, dass sie zur Weiterentwicklung beitragen und Stillstand verhindern. Die einzelnen Projekte inspirieren sich gegenseitig."
ragazzi: "Gibt es musikalische Einflüsse, die sich auf „Epitaph“ finden lassen?"
Bill: "Nein, eigentlich nicht. Wenn du z.B. in die Charts schaust, findest du nicht einmal entfernt Electro-/Industrial-Musik. Der einzige Einfluss waren meine eigenen, früheren Platten."
ragazzi: "Welche Musik hörst du momentan privat?"
Bill: "Ich höre eigentlich sehr viel Verschiedenes: Fat Boy Slim, Groove Armada, Staind, Moby. Es ist anders als früher, als ich völlig dogmatisch nur Bands wie Front 242 gehört habe und nichts anderes gelten ließ. Heute gibt es eine Vielzahl guter, professioneller Bands, die mich interessieren."
ragazzi: "Wie lange habt ihr an „Epitaph“ gearbeitet?"
Bill: "Alles in allem etwas mehr als ein Jahr, mit kurzen Unterbrechungen. Es steckt verdammt viel Arbeit in so einer Plattenproduktion, wovon sich die meisten Menschen gar keine Vorstellung machen können.
Technisch ist „Epitaph“ wirklich perfekt und kann mit Produktionen wie etwa von Rammstein mithalten. Aber heutzutage reicht es nicht aus, eine gute Platte zu machen. Du brauchst eine riesige Promotionmaschinerie, um entsprechend zu verkaufen. Der Blick auf unsere früheren Verkaufszahlen hinterlässt schon einen bitteren Nachgeschmack. Es ist frustrierend. Ich meine, schau dir Delerium an und du siehst, was passiert, wenn du eine größere Promotionkampagne startest. Das vermisse ich bei FLA. Wir sprechen natürlich kein so großes Publikum an, aber es hätte definitiv ein wenig besser laufen können. Doch letztlich geht es mir weniger um Geld und Ruhm als um Kunst."
ragazzi: "Was gab den Ausschlag dafür, das Album „Epitaph“ (= Grabinschrift) zu nennen?"
Bill: "Zum einen könnte es die letzte Platte unserer Band sein. Zum anderen hatte Front Line Assembly schon immer eine apokalyptische Sicht auf das Leben. Also dachte ich, es wäre der perfekte Titel – egal, was auch immer passieren würde. "
ragazzi: "Steht ein inhaltliches Konzept hinter dem Album?"
Bill: "Ja, es ist der erwähnte apokalyptische Geist. Am Ende eines Tages frage ich mich manchmal: Was ist der Sinn all deiner harten, anstrengenden Arbeit? Ist vielleicht alles umsonst? Irgendwann geht nun mal alles zu Ende. Warum also kämpfen? Solche Gedanken kommen mir inzwischen häufiger. Und ich stoße dann auch auf Fragen wie: Was hält dich eigentlich am Leben? Ich reflektiere in meinen Texten lieber darüber als über Beziehungen mit Ex-Freundinnen. Ich bin sehr philosophisch und denke viel nach. Die Platte ist so etwas wie eine Aussöhnung von mir mit den letzten 10 Jahren meines Lebens: Was habe ich erreicht? Hat es irgendetwas für mich gebracht? Und auch mein Verhältnis zur Umgebung, zur Welt um mich herum spielt eine Rolle in den Lyrics. Es sind recht ernsthafte Themen, aber ich bin auch keine 18 mehr. Ich habe inzwischen meine eigene Sichtweise auf das Leben. Ich meine, es gibt häufig Momente, in denen ich mich frage: Was bleibt? Dein Bankkonto, dein Haus, dein Auto – es ist alles großartig. Aber am Ende bedeutet all das nicht viel."
ragazzi: "Eigentlich sind das keine neuen Themen für Front Line Assembly."
Bill: "Du hast Recht, es ging bei uns schon immer um die paradoxen Dinge im Leben. Woher kommt und wohin geht alles? Abends, wenn ich schlafen gehe, ist da manchmal so ein bittersüßes Gefühl: So schön das Leben auch ist, du kannst letztlich nicht alles haben. Es ist wichtig, sich nicht zu sehr an etwas zu hängen, weil du es irgendwann einfach zurücklassen musst. Man sollte versuchen, sich so viel wie möglich vom Leben zu greifen, so viel wie möglich mitzunehmen."
ragazzi: "Bill, ich finde deine Sichtweise sehr realistisch, aber auch sehr pessimistisch. Denkst du, dass Künstler wie du etwas bewegen können in den Menschen oder gar in der Gesellschaft?"
Bill: "Nimm folgendes Beispiel: Ich habe in das Booklet einer Britney Spears-CD geschaut und fand dort Texte wie: „Uh, uh baby, you don't do it right ... next time please phone me...“
Es ist unwichtig, ob du zustimmst oder nicht. Entscheidend ist, dass du die Leute durch die Texte zum Nachdenken bringst. Insofern ist eine Art von Einfluss möglich. Ich meine, wir müssen nicht alle einer Meinung sein. Es ist sogar besser, verschieden Sichtweisen zu haben und diese miteinander zu vergleichen."
ragazzi: "In dem Song „Decay“ heißt es: „no answers here“. Gibt es Antworten auf die Fragen, die du stellst?"
Bill: "Keine definitiven Antworten. Ich denke, wir sind alle auf der Suche nach diesen Antworten. Noch immer streiten sich die Menschen über Fragen wie: Woher kommern wir? Was ist das Universum? Ich finde, das Entscheidende ist, viele Fragen zu stellen. Je mehr Fragen du stellst, desto mehr lernst du."
ragazzi: "„I know what's real“, so eine Zeile aus dem Titel „Backlash“. Weißt du wirklich, was „real“ ist?"
Bill: "Bei „Backlash“ handelt es sich um einen sehr persönlichen Song. Manchmal glaubst du von Menschen, sie seien deine Freunde. Irgendwann stellt sich dann heraus, dass sie es überhaupt nicht sind. Es geht ihnen nur um ihren eigenen Nutzen. Das heißt, du hast sie nicht wirklich gekannt. Ich glaube, nur du selbst kennst dich tatsächlich."
ragazzi: "Ich möchte eine Aussage von dir zitieren, die aus einem früheren Interview stammt: „I see the end of the planet“. Wie weit sind wir noch von dieser Prophezeihung entfernt angesichts der Ereignisse vom 11.September?"
Bill: "Meine Aussage bezieht sich auf Naturereignisse. Z.B. könnte unser Planet von einem gigantischen Meteoriten getroffen werden. Im Vergleich zu den Dinosauriern sind die Menschen noch nicht sehr lange auf der Erde. Wir wissen, dass schon vor Beginn der Menschheitsgeschichte Naturereignisse mit nachhaltigem Einfluss stattfanden. Warum also kann sich so etwas nicht wiederholen? Vielleicht nicht heute oder morgen, aber irgendwann wird es passieren."
ragazzi: "1997 kam es zu einer entscheidenden Zäsur in der Geschichte von Front Line Assembly. Rhys Fulber verließ die Band. Warum diese Entscheidung, wo ihr zu jenem Zeitpunkt doch unglaublich erfolgreich wart?"
Bill: "Rhys war frustriert. Es ist richtig, wir waren erfolgreiche Künstler, hatten Respekt in der Öffentlichkeit. Aber wir sind auch fast daran zerbrochen. Viele Leute denken: Mensch, die haben es geschafft. Aber die Realität sieht meist ganz anders aus. Rhys jedenfalls wollte all das nicht mehr. Er wollte als Produzent arbeiten, ins Studio kommen, sechs Wochen seinen Job machen und dann wieder nach Hause gehen. Das ist etwas völlig anderes als ein FLA-Album herauszubringen. Eine Platte zu machen bedeutet nämlich, eine Unmenge an Zeit und Anstrengung zu investieren. Verdienen tust du dabei vergleichsweise wenig. Und du weißt auch nie, wie deine Songs ankommen werden. Rhys hat das ja jahrelang gemacht. Er brauchte einfach eine Veränderung, was ich absolut vestehen kann. Unseren Kontakt haben wir bis heute aufrecht erhalten. Gerade haben wir gemeinsam drei großartige Songs für Delerium geschrieben."
ragazzi: "Letzte Frage: Wann werden eure deutschen Fans euch auf der Bühne erleben können?"
Bill: "Wahrscheinlich im Frühjahr 2002. Ich mag es, von Zeit zu Zeit auf der Bühne zu stehen.Und da geben wir dann richtig Gas. Wir sind keine von diesen Electro-Bands, die auf der Bühne stehen und nur ihre Füße anschauen. Unsere Show ist voller Power. Es haben sich inzwischen auch genügend Energie und Frust angesammelt. All das werde ich auf der Bühne rauslassen."

Stefan






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