ESTAMPIE

Die Stimme des Mittelalters

Das Münchener Ensemble Estampie bearbeitet seit 1985 mittelalterliches Liedgut, um es mit alten Instrumenten neu interpretiert, in unsere Zeit zu transportieren. Dabei vermitteln die Ensemblemitglieder, alles Absolventen namhafter Musikhochschulen, ihre Vorstellung von jener Epoche. Mit "Fin Amor" widmen sie sich dem keltisch-bretonischen Kulturkreis. ragazzi sprach mit Michael Popp, Mitbegründer des Ensembles und Spezialist für mittelalterliche Instrumente und Aufführungspraxis.


ragazzi: "Fast alle eure Alben drehen sich um ein bestimmtes Thema. "Crusaders" beschäftigt sich mit den Kreuzfahrern, "Materia Mystica" mit Hildegard von Bingen, auf "Ondas" waren Lieder aus dem Mittelmeerraum zu hören und nun sind es bretonische und keltische Lieder..."
Michael Popp: "Aber die letzten beiden sind im Gegensatz zu den erst genannten keine Konzeptalben. "Ondas" und "Fin Amor" haben mehr einen assoziativen Rahmen, um die Phantasie in eine bestimmte Richtung zu lenken. Beides sind songorientierte CDs. Das neue an "Fin Amor" war, dass die keltische Kultur ja musikalisch noch lebt. Deshalb haben wir das Keltische in unsere Musik transportiert. Es ist eine Art intellektueller Background. Das ist auch die Idee von Estampie. Wir wollen unsere Musik mit bestimmten Phantasien anreichern."
ragazzi: "Wonach wählt ihr die Songs aus?"
Michael: "Das hat was mit der persönlichen musikalischen Entwicklung zu tun. Wir lernen ja ständig, neue Instrumente zu spielen. Und die Herkunft dieser Instrumente beeinflusst auch die Art der Lieder, die wir spielen. Es muss aber auch immer ein Anliegen dabei sein. Denn wir beschäftigen uns mit der jeweiligen Geschichte und Kultur, so wie jetzt mit dem Keltischen."
ragazzi: "Was ist dabei komplizierter, das Erlernen der Instrumente oder die verschiedenen alten Sprachen?"
Michael: "Beides gleich. Die Instrumente zu erlernen ist für mich nicht mehr ganz so schwer. Ich mache das ja schon seit fast zwanzig Jahren. Und von der Grundtechnik sind die meisten Instrumente ähnlich. Das Wichtigste aber ist die Sprache, den Geist der Musik zu verstehen. Zum Beispiel schreibe ich nach Gehör die Noten von einem Musikstück aus einer anderen Kultur auf. Dann spielen wir das mit Estampie und es klingt völlig anders. Und dabei lernt man erst, was Musik eigentlich ausmacht. Nämlich etwas, dass man nicht in Parametern ausdrücken kann. Das ist einfach der Geist der Musik."
ragazzi: "Seht ihr euch als Bewahrer der mittelalterlichen Musik oder als Erneuerer?"
Michael: "Als Erneuerer! Ich bin ein absoluter Gegner dieser Bewahrungsgeschichte. Wir machen keine Mittelaltermusik wie im Mittelalter. Das verwechseln viele Leute. Wir machen Musik über unsere Vorstellung vom Mittelalter. Ich selber sehe mich als Avantgardisten, als modernen Menschen, der voraus denkt und nicht zurück. Dazu gehört aber die Einbeziehung der Vergangenheit. Ich kann die Gegenwart erst verstehen, wenn ich die Vergangenheit verstehe."
ragazzi: "Wieviel Vergangenheit und wieviel Gegenwart steckt in den Liedern Estampies?"
Michael: "Die Texte und die Grundmelodien sind original mittelalterlich. Die Arrangements, vor dem Hintergrund des Wissens der damaligen Techniken, sind von heute."
ragazzi: "Wie funktioniert die Studioarbeit mit diesen alten Instrumenten?"
Michael: "Wenn wir ins Studio gehen, sind die Songs schon fertig. Im Studio selbst verbessern wir lediglich die Klangqualität. Dazu benötigen wir allerdings besonders gute Mikros, um den Klang unserer Instrumente ideal einzufangen."
ragazzi: "Wie findest du Band wie Corvus Corax oder In Extremo? Könntest du dir eine Zusammenarbeit mit denen vorstellen?"
Michael: "Ja. Ich habe Respekt vor dem was die machen. Obwohl es letztendlich Remmidemmi ist. Hard-Rock eben. Was mir persönlich nicht so gefällt, weil es mich einschränkt. Daher würde ich es auch anders machen. Wenn man aber den lyrischen Teil, so wie wir ihn machen, und den Hard-Rock zusammenbringt, kann ich mir das hochspannend vorstellen. Gegen eine Kooperation hätte ich nichts einzuwenden!"
ragazzi: "Zurzeit überschwemmt ja auch eine Welle von Pseudo-Mystic-Musik die Charts. Wie stehst du zu Acts wie Gregorian, Enya oder zur Carmina Burana als Techno-Version?"
Michael: "Damit habe ich so meine Schwierigkeiten. Es kommt natürlich auf den Einzelfall an. Wenn aber klar deutlich wird, dass es nur ums Verkaufen geht und wenn das Schielen nach Geld so offensichtlich ist, dann habe ich schon meine Probleme. "Stairway To Heaven" von den Gregorian gesungen, ist ja nicht ganz uneindrucksvoll. Aber sich als Mönch zu verkleiden und dann dieses Lied zu singen, ist schon absurd. Dabei gab's ja schon viel Schlimmeres. Enigma zum Beispiel. Da hört's für mich auf!"
ragazzi: "Ihr habt Pläne, demnächst Musik aus dem arabisch-orientalischen Raum zu interpretieren. Was genau kann man da erwarten?"
Michael: "Wir beginnen in diesem Jahr, an unserem Marco-Polo-Projekt zu arbeiten. Das soll eine Trilogie werden, in der die Seidenstraße konzeptionell im Mittelpunkt steht. Dazu werden wir mit Musikern aus Zentralasien und Arabien zusammenarbeiten. Das wird unser musikalischer Schwerpunkt für das neue Jahrtausend."


ragazzi: "Du warst ja lange Zeit auch Musiker bei Deine Lakaien. Jetzt wurde bekannt, dass du und Christian Komorowski nicht mehr dabei seid. Die Umstände, weswegen es dazu kam, lassen derzeit viele Gerüchte kursieren. Kannst du da mal Klarheit reinbringen?"
Michael: "Alexander und Ernst (A. Veljanov und E. Horn von Deine Lakaien/Anm. d. Red.) haben uns aus nicht weiter genannten Gründen rausgeworfen. Es hieß, unser Verhältnis sei zerrüttet. Nur wussten wir nichts davon. Auch wurde uns das nicht weiter erklärt, wir sollten das so akzeptieren. Denn eine richtige Begründung haben die beiden nicht. Deshalb tun sie jetzt so, als wären wir ausgestiegen. Der Hintergrund ist der: Als wir uns beim letzten Lakaien-Album zur Vierergruppe formiert hatten, haben Christian Komorowski und ich alle Rechte an den Platten Ernst und Alexander überlassen und beschlossen für drei Produktionen zusammenzuarbeiten. Leider haben wir uns Letzteres nicht schriftlich geben lassen. Also konnten sie uns jetzt eiskalt abservieren."
ragazzi: "Ist das auch ein Grund dafür, dass Ernst Horn sich von eurem Projekt Qntal zurückgezogen hat?"
Michael: "Eigentlich wollten wir im vergangenen Jahr wieder etwas für Qntal tun, nachdem das Projekt eine Weile auf Sparflamme köchelte. Aber als es dann soweit war, teilte Ernst mir mit, dass er keine Zeit hat und ihm das alles zu viel wird. Irgendwann erfuhr ich dann hintenrum, dass er ein neues Projekt betreibt (Helium Vola/Anm. d. Red.). Noch dazu mit Leuten, die bei Estampie mitgearbeitet haben. Die hat er bei mir abgezockt! Und ich finde es ist ein Unterschied, ob ich aus einem Projekt aussteige oder ein ähnliches mit anderen Leuten mache. Er hätte mir doch sagen können, was Sache ist!"
ragazzi: "Demnach führst du zusammen mit Sigrid Hausen Qntal weiter?"
Michael: "Na klar! Wir haben jetzt einen jungen Berliner für die Electronics gefunden. Der sitzt gerade an neuem Material und vielleicht schaffen wir es, beim Wave-Gotik-Treffen aufzutreten. Dann würden wir ein kombiniertes Estampie-Qntal-Konzert machen."
ragazzi: "Na dann darf man ja echt gespannt sein. Ich danke für das Interview!"

Lars




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