Henry Kaiser & Ray Russell "The Celestial Squid" (Cuneiform Records 2015)


Back to the roots. Die Initiative zu dieser Zusammenarbeit ging von Henry Kaiser aus. Der Avant/Improv/Jazz-Gitarrist, Taucher und Filmemacher wissenschaftlicher Dokumentationen fragte freiweg bei Ray Russell an, ob dieser Interesse habe, ein Album im Stile seines Klassikers "June 11th 1971: Live At The ICA" aufzunehmen. Ray Russell war überrascht und begeistert und sagte sofort zu. Und warum hatte er seit 1971 nicht wieder auf diese Weise gearbeitet? Simple Antwort: er wurde nie gefragt oder dazu aufgefordert.
Ray Russell, der erste Brite mit einem Pedal-Set auf der Bühne, war schon früh einer der großen Helden für Henry Kaiser. Sein Stil, sein Sound, seine Spielweise, seine Art, Free Jazz energisch, laut und kraftvoll zu spielen (wie der frühe John McLaughlin) begeisterten und fesselten Henry Kaiser.
Beide Gitarristen veröffentlichten unter eigenem Namen und sind an zahllosen Projekten und Veröffentlichungen beteiligt (gewesen). Beide spielten mit den Größten und Erfolgreichsten wie mit den Avantgardisten und Außenseitern. Die Veröffentlichungen, an denen jeder der beiden Gitarristen beteiligt war, sind zahllos und von großer stilistischer Breite. Beide spielten Free Jazz, Avantgarde, Fusion, Jazzrock, Progressive Rock, Avant Jazz, freie Improvisation.
Ray Russell begann 1965 als Gitarrist in John Barry Seven's letztem Line-Up, ging zu Georgie Famie & the Blue Flames, arbeitete mit Chris Spedding, Jack Bruce und Alan Skidmore in der Mike Gibbs Band, später bei Mouse, Nucleus, Rock Workshop. Seine Kollaborationen seit den 1970ern sind zahllos, als Sessionmusiker stand er vielen Popstars zur Seite, etwa Paul McCartney, Tina Turner, Brian Ferry, David Bowie, Phil Collins, Scott Walker, Marvin Gaye oder gar Heaven 17. Auf Cuneiform sind bereits einige seiner jüngeren Alben ("Goodbye Svengali" 2006 oder "Now More Than Ever" 2013) veröffentlicht worden.
Henry Kaiser veröffentlichte sein erstes eigenes Album 1978 ("Ice Death"), ist seit 1972 parallel als Komponist, Musiker und in der Filmindustrie als Kameramann aktiv und für seine Mitarbeit an zahllosen Projekten weltbekannt. So arbeitete er an der Filmmusik für vier Werner Herzog - Filmen, und ist als wissenschaftlicher Taucher im United States Antarctic Program aktiv. Er machte mehr Untereis-Aufnahmen für Film und Fernsehen als jeder andere Kameramann und verzeichnet mehr Tauchgänge als jeder andere professionelle Filmemacher in der Antarktis.
Neben seiner Arbeit in Jazz und jazznahen Musikstilen schrieb Henry Kaiser zahlreiche Filmmusiken und arbeitet mit Weltmusikern etwa aus Korea, Madagaskar, Simbabwe, Vietnam, Indien und China in diversen ethnischen Stilen zusammen.
7 Songs sind auf "The Celestial Squid" zu hören. Henry Kaiser und Ray Russell spielen elektrische Gitarren. Steve Adams, Joshua Allen, Phillip Greenlief und Aram Shelton Saxophon, Michael Manring Bass, Damon Smith akustischen Bass und Weasel Walter und William Winant Schlagzeug. Henry Kaiser, Joshua Allen und Weasel Walter trugen je eine Komposition bei, Saxophonist Steve Adams (der selbst schon früh in den 1970er zwischen Free Jazz und Jazzrock eindrucksvoll arbeitete) und Ray Russell jeweils zwei. Die ausführliche Instrumentalarbeit aller Tracks läuft zwischen 8:50 und 15:34 Minuten, so dass die Spielzeit der CD mit 79:46 Minuten vollständig ausgereizt wurde.
Zuerst fällt auf, dass die Schlagzeuger (im ersten Track) einen seltsamen Hoppelrhythmus zelebrieren. Im weiteren Geschehen der Songs wird ein dichter, frei improvisativer Rhythmusstil deutlich, der das zwischen Electric Jazz, Jazzrock und Free Jazz mäandernde Geschehen herzhaft und rasant unterstützt. In lyrischen Passagen spielt die Band über verspielt gewebtem Rhythmus sphärische Sounds, Bass-Solo, elektronisch verfremdete Sounds (Henry Kaiser) und luftiges Gebläse streben höherer Harmonie entgegen. Doch wenn das energische Spiel in laute, atonale Bereiche vordringt, kratzen die Bläser scharfkantige Spitzen, jaulen die Gitarren, poltern die Schlagzeuge und geht er vordem noch so lasziv lyrische Sound in radikalen Free Jazz Attacken auf.
Die ausgeprägte Dauer der Songs lässt harsch krasses Geschehen zu, das Free Jazz Freaks die besten Vitamine liefert und gleichzeitig Avantrock Süchtigen Freudentränen in die Augen treibt. Nach einem solchen anarchischen Intro holpert die Band dann schräg dahin wie Albert Ayler, elektrisch und rockig, aber ebenso flusig, lasziv und dramatisch schräg. Die kleinste Stille und der größte Lärm gehören zu einem Track, einer Komposition und was hin und wieder komponierter klingt, ist die Basis, an die alle Mitstreiter immer wieder zurückkehren, um zu neuen Impros aufzubrechen. Und tatsächlich ist nichts an und in den Songs modern, mal vom Holperrhythmus abgesehen, und könnte so fast schon 1971 eingespielt worden sein. Wenn dem Geschehen nicht die Selbstsicherheit innewohnen würde, die die Arbeit entscheidend prägt. Was in den vergangenen 40 Jahren zwischen Free Jazz, Avantgarde Jazz und Avantgarde Rock möglich war und auf LPs zu hören ist, kann als Fundament dieser Zusammenarbeit gelten. Neuland wird hier nicht betreten, aber gefährliches Gelände, das schwer zu durchqueren ist, bei Erfolg allerdings grandiose Perlen versprechen kann.
Ich bin mir nicht sicher, welcher Schlagzeuger (oder Komponist) für das Holperschlagzeug verantwortlich ist. Die leichte Abwertung findet vor allem in Basistracks statt, wenn die Improvisations-Arbeiter sich warm laufen.
Schön schräges, extravagantes, ‚abgefahrenes' Teil. Für Paar-Therapien eher nicht geeignet.

henrykaiserguitar.com
rayrussell.co.uk
cuneiformrecords.com
VM



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